Zahlenmenschen zucken zusammen
So erlebt Börsenprofi Josef Obergantschnig
die aktuelle Ausnahmesituation.
Nach den herben Kursverlusten ist an den Börsen etwas Ruhe eingekehrt. Momentan scheint die Welt in Zahlen gefangen zu sein. Alles dreht sich um die Anzahl von Coronafällen, Covid-19-wachstumsraten oder um astronomische Summen der von Staaten oder Notenbanken verabschiedeten Hilfspakete. Ein Umfeld, in dem sich ein Zahlenmensch wie ich eigentlich ganz wohlfühlen müsste. Als Börsianer ist es schließlich meine Profession, mich mit den Indizes dieser Welt zu beschäftigen oder auch eigene zu berechnen. Aber 2020 ist irgendwie anders. Es ist spätabends, meine Kinder sind bereits im Bett. Ich stehe auf unserer Terrasse, um nach einem anstrengenden Tag noch ein bisschen runterzukommen. Eine Zahl will und will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. 95.500 – grundsätzlich eine unbedeutende Zahl, wenn damit nicht die Not von so vielen Menschen beziffert werden würde. In Österreich leben 8,7 Millionen Menschen. Von diesen gingen 4,3 Millionen einer Erwerbstätigkeit nach. Im Jahresdurchschnitt waren 2019 etwas mehr als 200.000 Menschen arbeitslos. So weit einmal die Fakten. Mit den Neuanmeldungen dieser Woche ist die Anzahl der Arbeitslosenmeldungen um mehr als 45 Prozent angestiegen. Österreich ist ein Dienstleistungsland, schließlich sind mehr als 70 Prozent diesem Bereich zuzuordnen. Nach dem Shutdown sind diese Branchen besonders stark betroffen. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zahl der Arbeitslosen weiter ansteigen wird. Ein weiterer wichtiger Arbeitgeber ist die Industrie, die mehr als ein Viertel der Österreicher beschäftigt. Auch hier stehen die Zeichen auf Sturm. Unter diesem Blickwinkel wird klar, warum die Regierung am Mittwoch ein 38-Milliarden-euro-hilfspaket verabschiedet hat. Whatever it takes! Wann, wenn nicht jetzt?
Josef Obergantschnig ist Präsident des Wirtschaftsethikklubs Ethico und allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Bank- und Börsenwesen