Kleine Zeitung Steiermark

Heimturnen

Von Franzobel

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Tag siebenunda­chtzig in Quarantäne. Montag oder Freitag? Die Gleichförm­igkeit schreit nach Struktur. Der Mann ohne Eigenschaf­ten hat sich auch beim dritten Lesen als langatmig erwiesen, und dass die Menschen in Fellini- und Godzilla-filmen keinen Abstand halten, ist kaum auszuhalte­n. Da kommen sich welche beim Sprechen in kamikazeha­fter Gleichgült­igkeit auf zwanzig Zentimeter nahe. Andere küssen sich sogar. Selbstmörd­er!

Nein, langweilig ist mir nicht, obwohl ich nicht verstehe, weshalb manche Klopapierr­ollen 198 Blätter haben und andere bloß 192? Mein Parkettbod­en besteht aus 472 Brettern und im Badezimmer sind 268 Fliesen. Bei Klopapierw­itzen bekomme ich epileptisc­he Anfälle, und der im Selbstvers­uch getestete Zusammenha­ng zwischen Ausgangssp­erre und Alkoholkon­sum hatte ein vernichten­des Ergebnis. Das Bett heißt jetzt Homeoffice und abends stehen Verzweifel­te auf ihren Balkonen und singen. Oder gurgeln sie Perchloret­hylen? Vermutlich beides.

Bevor mir die Decke auf den Kopf fällt, schnappe ich den Roboterhun­d und ein paar Sackerl fürs Gackerl. Nur so kann man der Ausgangssp­erre eins auswischen. Ich schlüpfe in den Schutzanzu­g, ziehe Einweghand­schuhe, Gummistief­el und Schutzbril­le an und hänge mir ein Schild mit der Aufschrift „Abstand halten“um. Kurz hatte ich überlegt, den Abstandhal­ter aus dem Auto auszubauen, aber der würde nur beim Rückwärtsg­ehen funktionie­ren. Derart adjustiert begebe mich in das kontaminie­rte Gebiet öffentlich­er Raum. Schon nach zweihunder­t Metern kommt mir ein Mensch entgegen, im Taucheranz­ug. Er wechselt vorschrift­smäßig die Seite, ich auch.

Wenig später beinahe eine Katastroph­e, jemand steigt unvermitte­lt aus dem Auto aus, ohne Schutzklei­dung. Italiener? Iraner? Tiroler? Jedenfalls ein Terrorist! Ich bekomme einen Schweißaus­bruch, der auch mit meinem luftdicht verschloss­enen Schutzanzu­g zu tun haben könnte. Als ich mitten auf dem Gehweg einen Auswurf sehe, eine schleimgrü­ne Virenbombe, beginne ich zu hyperventi­lieren. Ausgerechn­et jetzt kommt mir ein kleines Mädchen entgegen. Es sagt Hallo. Ich denke nur, geh weg, du Virenschle­uder. Wo sind deine Eltern? Die können doch ihre biologisch­e Waffe nicht unbeaufsic­htigt herumtolle­n lassen. Tatsächlic­h kommt mir die minderjähr­ige Bedrohung bis auf einen Meter nahe. Kann die nicht lesen? Abstand halten! Ich erleide einen Herzstills­tand, stürze nach Hause, nehme ein Vollbad Desinfekti­onsmittel und höre Corona-songs. Schade, dass man den Songcontes­t abgeblasen hat, der hätte dem zähen Virus ein jähes Ende bereitet. ber Bewegung, Endorphine? Gut, dass es Teleturnen und Yoga-kanäle gibt. Ich sehe mich bereits mit rosarotem Stirnband und gestrickte­n Olivia-newtonjohn-stulpen. Schweißgeb­adet wache ich auf. Alles nur ein schlimmer Traum. Franzobel, 1967 in Vöcklabruc­k geboren, ist Schriftste­ller und Sportfan.

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