Riskanter Befreiungsschlag
Die Regierung durchschneidet mit ungestümer Hast alle Fesseln, um der Unruhe in der Bevölkerung zu begegnen. Ein gefährlicher Reflex.
Ein Land in Notlage zuzusperren, ist leichter, als es wieder von den Fesseln zu befreien. Diese Erfahrung macht gerade die Regierung. Das klingt paradox, weil die Einschnitte in die Freiheitsrechte breite Auflehnung und die Lockerungen anerkennende Erleichterung hätten erwarten lassen. Diese pädagogisch inspirierte Logik wurde auf den Kopf gestellt. Die Bürger folgen ihr nicht.
Das hat damit zu tun, dass die meisten die dramatischen Maßnahmen nicht als Bestrafung und das Prozedere der schrittweisen, beschleunigten Aufhebung nicht als Belohnung empfanden. Eher verhielt es sich umgekehrt, was für die Bürger und nicht gegen sie spricht. Sie haben sich eben nicht pädagogisieren lassen, sondern handelten in beiden Fällen wach. Sie befolgten die Einschränkungen nicht als Heinrich Manns Untertan, sondern weil sie den Entscheidungen angesichts der Bedrohung eine Plausibilität und Stringenz zumaßen, während viele bei der Linderung der schweren Folgewirkungen und den Kaskaden der Lockerungen diese
Plausibilität vermissen.
Das schuf durch die vielen Betroffenheiten milieuübergreifend Frust und Verdruss. Da passten zum einen die Bilder, wo mit großer Geste astronomisch dotierte Hilfspakete versprochen wurden, mit der eigenen Erfahrung als Empfänger nicht mehr zusammen. In zu vielen Fällen kam die Hilfe zu spät, gar nicht, als Almosen oder als bürokratische Zumutung. Kafkaeske Spießrutenläufe waren die Folge. Für das Ausfüllen von Formularen mussten Steuerberater beigezogen werden. Der Staat besicherte großmundig Kredite, die die Banken kleinmütig nicht freigaben. Firmen mussten budgetäre Prognosen für eine ungewisse Zukunft erstellen, vor denen das Finanzministerium beim eigenen Budgetplan zurückschreckte. Flüssig floss wenig.
Zum anderen holperte es
und
Konsequenz auch beim Aufsperren. Der Stufenplan wirkte mitunter unkoordiniert und willkürlich. Prioritäten ließen eine eigenwillige Wertehierarchie erkennen: die Baumärkte zuerst, die Schulen zuletzt und die Unis gar nicht? Logik-debatten entbrannten. Golf im Freien ja, Turnunterricht im Freien nein? Man nagelte Erlässe für das Beschriften von Tennisbällen an die Wand und überließ die Eingeschlossenen in den Pflegeheimen ihrem Leid oder baute Kästen aus Plexiglas. Die Kinder wurden in den Schulen getadelt, wenn sie die Maskenpflicht missachteten. Jetzt muss man ihnen das Pfingstwunder erklären, warum alles nicht mehr gelte und der Geist eben wehe, wohin er will. er Weg zurück in die alten Freiheiten führt über Serpentinen und Schlaglöcher, das bei hoher, ungezügelter Geschwindigkeit. Die, die am Steuerrad sitzen, erscheinen wie Getriebene. Sie schauen nicht auf den Weg, sondern auf die Umfragen. Sie sollten rasch die Hoheit über ihr Tun wiedererlangen. Sonst wird die überstürzte Entfesselung zum Wagnis für alle.
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