Die Frau mit dem blauen Schutzmantel
Letztens, vor dem Bauernhaus: Eine Schwalbe schießt durch das geöffnete Stallfenster zum Nest, als gelte es, Temporekorde zu brechen. Da schleicht plötzlich eine Katze über den Hof, genau in der Einflugschneise. Und die folgende Szene muss man gesehen haben: Die Schwalbe fliegt mit wütendem „Zi-witt, Zi-witt“im Sturzkampf mehrmals nur Zentimeter über die Katze hinweg, die sich ängstlich ganz auf den Boden duckt. Kamikatze, sozusagen. Und die Katze schleicht nicht mehr, sie schleicht sich ...
Nichts ist größer als der Mut der Mütter, der Mut der Frauen, wenn es um Kinder geht. Gegen Gefahren zigfach gepanzert mit Instinkt, Schutzmantel, Liebe. So einen Schutzmantel breitete auch eine Krankenschwester im Saint George Hospital University Medical Center aus, nachdem Beirut die Riesenfaust getroffen hatte. Die unidentifizierte Frau wurde in der Geburtenstation von der Druckwelle nach der Explosion selbst zu Boden geschleudert und ohnmächtig, und als sie wieder zu sich kam, begriff sie erst langsam, dass sie drei Neugeborene im Arm trug.
Das erzählte sie dem Fotojournalisten Bilal Jawich, der sie in dem Moment ablichtete, als sie – die Winzlinge wiegend – auch noch versuchte, über Telefon Hilfe zu holen. „Diese Krankenschwester ist eine Heldin“, sagte Jawich dem Sender CNN, „sie sah aus, als besitze sie eine verborgene Kraft, die ihr die Fähigkeit verlieh, ruhig zu bleiben und drei Kinder zu retten.“Ihr Handeln sei bewundernswert gewesen, lagen doch rundum Dutzende verwundete Menschen und draußen nur noch Trümmer in einer „gewaltvollen, dunklen, schrecklichen Szenerie“, wie er sie trotz 16 Jahren Erfahrung, auch als Kriegsreporter, noch nie gesehen habe.
Das 1878 gegründete Spital, das in Beiruts Viertel Aschrafiyya liegt, war das älteste im Libanon. Es wurde so zerstört, dass es aufgegeben werden muss. Zwölf Patienten, zwei Besucher und zwei Pflegerinnen starben. Die drei Babys sind bei ihren Müttern. Dank der Frau mit dem blauen Schutzmantel.
Seit ich dich kenne, war dein Antlitz gezeichnet von den Geistern einer blutigen Vergangenheit, die es um jeden Preis zu vergessen galt. Deine alten Fassaden, vernarbt von Kugeln und Granatsplittern, verschwinden hinter bunten Schildern und Reklamen. Ruinen, die ihre Ruhe in Jasmin- und Orangenbäumen gefunden haben, die wie grüne Adern durch Risse im Gemäuer das Sonnenlicht suchen, spiegeln sich in Glaspalästen, als würden sie nur darauf warten, von ebensolchen ersetzt zu werden.
Niemand hat je versucht, dich auferstehen zu lassen, so wie du warst, bevor aus Gassen und Straßen Schützengräben wurden; bevor die roten Ziegel deiner Dächer im Nebel des Krieges verschwanden; bevor du, Hauptstadt des Libanon, zum Archipel verfeindeter Milizen wurdest. Das Blut deiner Vergangenheit wurde im Beton des Fortschritts ertränkt.
Man hat so viel höher gebaut, und so viel tiefer gegraben, dass nur wenig noch der Stadt
von der alle meinen, dass du sie einst warst. Beirut, Paris des Nahen Ostens, wo sie hinkamen, aus Ost und West, um zu singen, zu tanzen, zu feiern. In jedem Haus, wo Menschen wohnen, die zu wissen glauben, wie du einst warst, finden sich Bilder von diesem magischen Ort. Müde Erinnerungen an eine goldene Zeit. Du bist das Abbild deiner Kinder. Du schwelgst in Nostalgie, aber lebst im Vergessen.
Und welch ein Leben im Vergessen! Geschäftige Tage zwischen blechernen Flüssen und ratternden Motoren, in schillernden Bankgebäuden oder prächtigen Universitäten; lange Nächte, getränkt in Arak und dröhnender Musik; Wochenenden am Meer, in den Bergen, oder gleich beides auf einmal, um heimzukehren in eine Stadt, die nie schläft, außer, wenn das Licht ausgeht und der Generator nicht anspringt. n dir leben ist sich deinem schäumenden Sog hingeben; ein Wirbel, der alles zu vermischen scheint, was sich innerhalb deiner Stadtgrenzen findet. An deinen Straßen berühren sich Moscheen, Kirchen und Tanzcafés; Gewürzhändler und Zuckerbäcker, die nach Rosenwasser duften, und glitzernde Vitrinen mit glänzenden Schuhen aus Italien. Kurze Röcke streifen lange weiße Kaftans und schnittige Designeranzüge; der Geruch von Kaffee mit Kardamom mischt sich mit teurem Parfum und jener Aura von Benzin und Abgas, die man nur in Städten findet, die seit Jahren keine Straßenbahnen mehr gesehen
Ihaben. Doch unter dem Strudel der Gegenwart liegt eine geheime Stadtkarte, gezeichnet, als du erstarrt warst zwischen Fronten und Checkpoints. este von Stacheldraht und Bunkerbauten; von Barrieren aus Sandsäcken am Straßenrand, die sich beschämt im Gestrüpp und Müll zu verstecken scheinen; Häuserecken, an denen Symbole der Milizen prangen, die heute als Parteien im Parlament und in den Institutionen sitzen und dem Staat die Mittel absaugen. Schwerter zu Pfluggleicht,
Rscharen? Nein, Waffengewalt zu triefender Korruption; Kriegsflaggen zu Wahlplakaten; Kampfesrufe zu politischen Parolen. Die Frontlinien, die einst die Einflusszonen von Milizen trennten, sind zu verborgenen Verwerfungslinien zwischen tektonischen Platten aus verdrängtem Hass und Ressentiments geworden. An diesen Linien, die deine Kinder so eifrig vergessen wollen, zerreibt sich die Nation.
Tiefe Spaltungen, sichtbar und spürbar für alle, die nicht
verdrängen fähig sind; Teilungen, die die unsichtbaren Meister der Stadt, des Landes, der Gesellschaft sind. Lauernde Gewalt im Untergrund, gebändigt nur vom Schweiß und Schweigen deiner Kinder. erlieren tun all jene, die im Spiel der alten Kriegsherren auf der Strecke bleiben. Man sieht sie, die Verlierer, auf deinen Straßen, in deinen Vororten, in deinen Hinterhöfen, wo sie schuften, um den trügerischen Glanz deiner Zukunft aufrechtzuerhalten.
VTages im Oktober, dann wurde alles zu viel. Dein Strudel kam zum Erliegen. Das wackelige Staatsgerüst erlag schlussendlich der Gier der alten Herren. So viele waren auf der Strecke geblieben, dass sie mit erhobenen Fäusten ein morsches System infrage stellten. Zu viel gestohlen, zu viel gelogen. Vom Fortschritt des Vergessens war der Lack abgefallen. Fort mit den Dieben, riefen sie auf deinen Straßen, und zum ersten Mal seit Langem gab man sich die Hand – nicht zum Gezu schäft, sondern zum Schwesternund Brudergruß. Ein geeinter Libanon, der nicht mehr vergessen wollte, der die lebende Erbschaft seiner blutigen Vergangenheit in Solidarität und Gemeinschaft zu ersticken suchte.
Neue Fronten erstanden in deinen Straßen. Diesmal zwischen deinen Kindern und den diebischen Dämonen deiner Vergangenheit, die sich hinter hohen Betonmauern und Reihen aus Uniformen mit Schlagstöcken zu schützen versucheines ten. Das Bouquet von Kaffee, Parfum und Benzin wich dem bissigen Gestank von brennenden Reifen, dem stechenden Dunst von Tränengas und Pfefferspray.
Musik und Motoren verstummten, als das rhythmische Trommeln einer Bevölkerung, die aufsteht, auf deinen Plätzen Einzug hielt. Hoffnung für eine wahrhaftig bessere Zukunft und Angst vor der Rückkehr des Vergessens standen sich gegenüber in deinen Straßen, deinen Gassen. Und dann, auf einmal, mussten alle Masken tragen. in Virus hatte die Rufe der Veränderung zum Schweigen gebracht. Vorerst, sagten deine Kinder. Ruhe war eingekehrt in deinen Straßen.
Die Revolution musste warten, bis man wieder frei atmen konnte. Ermutigend waren die Bilder, als der Smog des Alltags der strahlenden Quarantänesonne wich – gaben Hoffnung, in einer Zeit, als alles andere knapp zu werden schien.
Doch auf einmal, nach so vielen Jahren, musst du wieder Asche schmecken.
Die Ignoranz der alten Herren reißt ein Loch in dein Herz und zerreißt die Herzen deiner Kinder. Tränen und Blut mischen sich in den staubigen Straßen. Der letzte Rest der alten roten Ziegel liegt zerschmettert in den Straßen und bildet mit zersplitterten Vitrinen und Fensterfronten ein trauriges Ensemble. Die Geister der Vergangenheit haben dich schlussendlich heimgeholt.
Wer weiß, wie sie dich diesmal wieder aufbauen?
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