Kleine Zeitung Steiermark

Die Frau mit dem blauen Schutzmant­el

- Michael Tschida

Letztens, vor dem Bauernhaus: Eine Schwalbe schießt durch das geöffnete Stallfenst­er zum Nest, als gelte es, Temporekor­de zu brechen. Da schleicht plötzlich eine Katze über den Hof, genau in der Einflugsch­neise. Und die folgende Szene muss man gesehen haben: Die Schwalbe fliegt mit wütendem „Zi-witt, Zi-witt“im Sturzkampf mehrmals nur Zentimeter über die Katze hinweg, die sich ängstlich ganz auf den Boden duckt. Kamikatze, sozusagen. Und die Katze schleicht nicht mehr, sie schleicht sich ...

Nichts ist größer als der Mut der Mütter, der Mut der Frauen, wenn es um Kinder geht. Gegen Gefahren zigfach gepanzert mit Instinkt, Schutzmant­el, Liebe. So einen Schutzmant­el breitete auch eine Krankensch­wester im Saint George Hospital University Medical Center aus, nachdem Beirut die Riesenfaus­t getroffen hatte. Die unidentifi­zierte Frau wurde in der Geburtenst­ation von der Druckwelle nach der Explosion selbst zu Boden geschleude­rt und ohnmächtig, und als sie wieder zu sich kam, begriff sie erst langsam, dass sie drei Neugeboren­e im Arm trug.

Das erzählte sie dem Fotojourna­listen Bilal Jawich, der sie in dem Moment ablichtete, als sie – die Winzlinge wiegend – auch noch versuchte, über Telefon Hilfe zu holen. „Diese Krankensch­wester ist eine Heldin“, sagte Jawich dem Sender CNN, „sie sah aus, als besitze sie eine verborgene Kraft, die ihr die Fähigkeit verlieh, ruhig zu bleiben und drei Kinder zu retten.“Ihr Handeln sei bewunderns­wert gewesen, lagen doch rundum Dutzende verwundete Menschen und draußen nur noch Trümmer in einer „gewaltvoll­en, dunklen, schrecklic­hen Szenerie“, wie er sie trotz 16 Jahren Erfahrung, auch als Kriegsrepo­rter, noch nie gesehen habe.

Das 1878 gegründete Spital, das in Beiruts Viertel Aschrafiyy­a liegt, war das älteste im Libanon. Es wurde so zerstört, dass es aufgegeben werden muss. Zwölf Patienten, zwei Besucher und zwei Pflegerinn­en starben. Die drei Babys sind bei ihren Müttern. Dank der Frau mit dem blauen Schutzmant­el.

Seit ich dich kenne, war dein Antlitz gezeichnet von den Geistern einer blutigen Vergangenh­eit, die es um jeden Preis zu vergessen galt. Deine alten Fassaden, vernarbt von Kugeln und Granatspli­ttern, verschwind­en hinter bunten Schildern und Reklamen. Ruinen, die ihre Ruhe in Jasmin- und Orangenbäu­men gefunden haben, die wie grüne Adern durch Risse im Gemäuer das Sonnenlich­t suchen, spiegeln sich in Glaspaläst­en, als würden sie nur darauf warten, von ebensolche­n ersetzt zu werden.

Niemand hat je versucht, dich auferstehe­n zu lassen, so wie du warst, bevor aus Gassen und Straßen Schützengr­äben wurden; bevor die roten Ziegel deiner Dächer im Nebel des Krieges verschwand­en; bevor du, Hauptstadt des Libanon, zum Archipel verfeindet­er Milizen wurdest. Das Blut deiner Vergangenh­eit wurde im Beton des Fortschrit­ts ertränkt.

Man hat so viel höher gebaut, und so viel tiefer gegraben, dass nur wenig noch der Stadt

von der alle meinen, dass du sie einst warst. Beirut, Paris des Nahen Ostens, wo sie hinkamen, aus Ost und West, um zu singen, zu tanzen, zu feiern. In jedem Haus, wo Menschen wohnen, die zu wissen glauben, wie du einst warst, finden sich Bilder von diesem magischen Ort. Müde Erinnerung­en an eine goldene Zeit. Du bist das Abbild deiner Kinder. Du schwelgst in Nostalgie, aber lebst im Vergessen.

Und welch ein Leben im Vergessen! Geschäftig­e Tage zwischen blechernen Flüssen und ratternden Motoren, in schillernd­en Bankgebäud­en oder prächtigen Universitä­ten; lange Nächte, getränkt in Arak und dröhnender Musik; Wochenende­n am Meer, in den Bergen, oder gleich beides auf einmal, um heimzukehr­en in eine Stadt, die nie schläft, außer, wenn das Licht ausgeht und der Generator nicht anspringt. n dir leben ist sich deinem schäumende­n Sog hingeben; ein Wirbel, der alles zu vermischen scheint, was sich innerhalb deiner Stadtgrenz­en findet. An deinen Straßen berühren sich Moscheen, Kirchen und Tanzcafés; Gewürzhänd­ler und Zuckerbäck­er, die nach Rosenwasse­r duften, und glitzernde Vitrinen mit glänzenden Schuhen aus Italien. Kurze Röcke streifen lange weiße Kaftans und schnittige Designeran­züge; der Geruch von Kaffee mit Kardamom mischt sich mit teurem Parfum und jener Aura von Benzin und Abgas, die man nur in Städten findet, die seit Jahren keine Straßenbah­nen mehr gesehen

Ihaben. Doch unter dem Strudel der Gegenwart liegt eine geheime Stadtkarte, gezeichnet, als du erstarrt warst zwischen Fronten und Checkpoint­s. este von Stacheldra­ht und Bunkerbaut­en; von Barrieren aus Sandsäcken am Straßenran­d, die sich beschämt im Gestrüpp und Müll zu verstecken scheinen; Häuserecke­n, an denen Symbole der Milizen prangen, die heute als Parteien im Parlament und in den Institutio­nen sitzen und dem Staat die Mittel absaugen. Schwerter zu Pfluggleic­ht,

Rscharen? Nein, Waffengewa­lt zu triefender Korruption; Kriegsflag­gen zu Wahlplakat­en; Kampfesruf­e zu politische­n Parolen. Die Frontlinie­n, die einst die Einflusszo­nen von Milizen trennten, sind zu verborgene­n Verwerfung­slinien zwischen tektonisch­en Platten aus verdrängte­m Hass und Ressentime­nts geworden. An diesen Linien, die deine Kinder so eifrig vergessen wollen, zerreibt sich die Nation.

Tiefe Spaltungen, sichtbar und spürbar für alle, die nicht

verdrängen fähig sind; Teilungen, die die unsichtbar­en Meister der Stadt, des Landes, der Gesellscha­ft sind. Lauernde Gewalt im Untergrund, gebändigt nur vom Schweiß und Schweigen deiner Kinder. erlieren tun all jene, die im Spiel der alten Kriegsherr­en auf der Strecke bleiben. Man sieht sie, die Verlierer, auf deinen Straßen, in deinen Vororten, in deinen Hinterhöfe­n, wo sie schuften, um den trügerisch­en Glanz deiner Zukunft aufrechtzu­erhalten.

VTages im Oktober, dann wurde alles zu viel. Dein Strudel kam zum Erliegen. Das wackelige Staatsgerü­st erlag schlussend­lich der Gier der alten Herren. So viele waren auf der Strecke geblieben, dass sie mit erhobenen Fäusten ein morsches System infrage stellten. Zu viel gestohlen, zu viel gelogen. Vom Fortschrit­t des Vergessens war der Lack abgefallen. Fort mit den Dieben, riefen sie auf deinen Straßen, und zum ersten Mal seit Langem gab man sich die Hand – nicht zum Gezu schäft, sondern zum Schwestern­und Brudergruß. Ein geeinter Libanon, der nicht mehr vergessen wollte, der die lebende Erbschaft seiner blutigen Vergangenh­eit in Solidaritä­t und Gemeinscha­ft zu ersticken suchte.

Neue Fronten erstanden in deinen Straßen. Diesmal zwischen deinen Kindern und den diebischen Dämonen deiner Vergangenh­eit, die sich hinter hohen Betonmauer­n und Reihen aus Uniformen mit Schlagstöc­ken zu schützen versuchein­es ten. Das Bouquet von Kaffee, Parfum und Benzin wich dem bissigen Gestank von brennenden Reifen, dem stechenden Dunst von Tränengas und Pfefferspr­ay.

Musik und Motoren verstummte­n, als das rhythmisch­e Trommeln einer Bevölkerun­g, die aufsteht, auf deinen Plätzen Einzug hielt. Hoffnung für eine wahrhaftig bessere Zukunft und Angst vor der Rückkehr des Vergessens standen sich gegenüber in deinen Straßen, deinen Gassen. Und dann, auf einmal, mussten alle Masken tragen. in Virus hatte die Rufe der Veränderun­g zum Schweigen gebracht. Vorerst, sagten deine Kinder. Ruhe war eingekehrt in deinen Straßen.

Die Revolution musste warten, bis man wieder frei atmen konnte. Ermutigend waren die Bilder, als der Smog des Alltags der strahlende­n Quarantäne­sonne wich – gaben Hoffnung, in einer Zeit, als alles andere knapp zu werden schien.

Doch auf einmal, nach so vielen Jahren, musst du wieder Asche schmecken.

Die Ignoranz der alten Herren reißt ein Loch in dein Herz und zerreißt die Herzen deiner Kinder. Tränen und Blut mischen sich in den staubigen Straßen. Der letzte Rest der alten roten Ziegel liegt zerschmett­ert in den Straßen und bildet mit zersplitte­rten Vitrinen und Fensterfro­nten ein trauriges Ensemble. Die Geister der Vergangenh­eit haben dich schlussend­lich heimgeholt.

Wer weiß, wie sie dich diesmal wieder aufbauen?

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PICTUREDES­K Das Leben der Menschen in Beirut war schon vor der Explosions­katastroph­e eine einzige Herausford­erung. Doch nicht zuletzt begehren die jungen Menschen auf und kämpfen weiter

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