Der Staat und die Räuber
Die Verheerungen in Beirut führen vor Augen, was passieren kann, wenn Staatsdiener sich nicht mehr für das Ganze verantwortlich fühlen. Ein warnendes Lehrbeispiel.
Italiener haben ein Wort geprägt, das beschreiben soll, was dem Land angeblich abgeht: „Il senso dello stato“heißt so viel wie der Sinn, das Bewusstsein für das Staatsganze. Kein Tag vergeht, ohne dass in Medien oder Streitgesprächen der Mangel an dieser wichtigen Grundtugend beklagt wird. Was auch immer schiefläuft in unserem Nachbarland, es wird letztlich auf dieses Defizit zurückgeführt.
Gegen den Libanon, dessen Agonie wir nur zur Kenntnis nehmen, wenn wieder einmal die Volkswut oder ein Lagerhaus explodiert, ist Italien geradezu ein Musterland. Der von Krieg und Bürgerkrieg schwer versehrte Nahost-staat zerfällt gerade vor unseren Augen. Die verheerende Detonation im Hafen Beiruts, verursacht nicht zuletzt durch Staatsversagen, macht wie in einem Brennglas deutlich, was passiert, wenn einem Gemeinwesen und seinen Dienern der Bürgersinn abhandenkommt.
Wer das Land der Länge nach bereist, stößt immer wieder auf die rostigen Reste von Schienen. Züge verkehren hier schon lange keine mehr. Zerstückelt durch private Bauten oder wilde Müllhalden, ist die einst wichtige Verkehrsader unbrauchbar geworden. Um ihre Instandhaltung kümmert sich niemand mehr. Das Amt aber, das für den Zugverkehr zuständig sein sollte, existiert noch. Es erfüllt eine letzte Aufgabe: einträgliche und repräsentative Posten für die Clans zur Verfügung zu stellen, die den Staat als Selbstbedienungsladen verstehen und systematisch ausweiden.
Streng verteilt die Verfassung Zuständigkeiten und Ämter auf die rivalisierenden Konfessionen im Libanon. Was ursprünglich der Befriedung des vielfältigen Landes dienen sollte, hat sich über die Jahre zu einem korrupten Pfründensystem verformt. Der Staat ist quasi unter die Räuber gefallen. Den anwachsenden Protest breiter Bevölkerungsschichten gegen die untragbaren Zustände unterbrach die Explosion nur kurz, nun befeuert sie die Volkswut mit neuen Argumenten.
Der Libanon mag ein Extremfall sein, gefeit ist aber kein Land vor langsamer Auszehrung seiner Institutionen. Der viel zitierte Satz des einstigen Us-präsidenten John F. Kennedy, „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst“, rückt den Bürgersinn in den Mittelpunkt, der jeden funktionierenden Staat trägt. Kennedys Frage ist nie ein für alle Mal beantwortet, sie stellt sich immer neu und keineswegs nur Amtsträgern und Beamten, die unmittelbar für den Staat arbeiten. Sie meint uns alle. ennedys Pathos ist uns fremd geworden. Funktioniert bei uns nicht ohnedies alles bestens, auch ohne exzessiven Idealismus? Die stetig wachsenden Aktenberge in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft machen warnend sichtbar, dass sich auch bei uns die Gewichte verschieben können.
Es dauert lange, bis ein stabiler Staat erodiert. Ihn nach seinem Zerfall neu zu errichten, gleicht einer Titanenaufgabe.
K