Kleine Zeitung Steiermark

„Maskenpfli­cht ist erst einmal nicht aktuell für uns“

- Von André Anwar, Stockholm

Der Arzt Anders Tegnell (64) ist schwedisch­er Staatsepid­emiologe und Architekt des Sonderwege­s. Ein Gespräch über Corona ohne Lockdown.

Während große Teile der Welt in den Coronalock­down gingen, entschied sich Schweden zu einem anderen Weg. Es gab nie eine Maskenpfli­cht. Fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Noch bis zum 29. März durften 500 Menschen zusammenko­mmen. Bis heute sind es maximal 50. Dies, ein Besuchsver­bot in Altenheime­n und Abstandsre­geln in der Gastronomi­e waren die einzigen Einschränk­ungen. Stattdesse­n wurde Händewasch­en und Zuhauseble­iben nur empfohlen. Der Arzt Anders Tegnell (64) ist schwedisch­er Staatsepid­emiologe und Architekt dieses Sonderwege­s.

Der schwedisch­e Sonderweg ist internatio­nal heftig umstritten, auch wegen der 5700 Toten bei 10,5 Millionen Einwohnern. Zuletzt sind die Zahlen der Neuinfekti­onen, Intensivpa­tienten und Todesfälle aber deutlich gesunken – all das ohne Lockdown. Wie erklären Sie das?

TEGNELL: Das zeigt, dass man auch mit einem freiwillig­en Ansatz, mit Empfehlung­en, Erfolg haben kann. Das kann den gleichen Effekt haben, als ob man die gesamte Gesellscha­ft im Lockdown zumacht. Und dies mit bedeutsam weniger negativen Nebeneffek­ten. Zwangsmaßn­ahmen für das ganze Volk sind schwierig, man muss als Gesundheit­sbehörde auf die Volksgesun­dheit schauen, und inwieweit die Effekte eines Lockdowns Menschen so stark belasten, dass andere Sterblichk­eitsraten steigen, wie beischließ­ung spielsweis­e die Selbstmord­rate oder auch, wenn bei schwer kranken Menschen die Hemmschwel­le für einen Besuch bei einem

Arzt wegen eines Lockdowns erhöht wird. Für Menschen ist es gesundheit­lich schädlich, unfreiwill­ig isoliert zu werden.

Warum haben Sie keine Maskenpfli­cht eingeführt?

Wir wissen noch immer wenig darüber, inwieweit Masken die Pandemie überhaupt dämpfen können. Wir haben Länder mit scharfer Maskenpfli­cht, die dennoch unter einer sehr starken Corona-ausbreitun­g leiden. Es ist natürlich möglich, dass Masken in gewissen Situatione­n, in denen Menschen sich auf engem Raum drängen, einen gewissen Effekt haben. In Schweden haben wir keine Anzeichen, dass es eine große Ansteckung­sgefahr etwa auf Transportw­egen gibt. Wir haben ausreichen­de Kapazitäte­n in Schweden, um stattdesse­n Abstand zu halten. Auch können Masken eine falsche Sicherheit bieten. In Schweden haben wir die Strategie, dass man zu Hause bleiben soll, wenn man krank ist, statt sich mit Masken hinauszube­geben. Zudem haben wir in Schweden seit Wochen immer weniger Neuinfizie­rte, Intensivpa­tienten und Tote. Bei der Entwicklun­g ist eine Maskenpfli­cht erst einmal nicht aktuell für uns.

Ihr Chef, der Gesundheit­samtsdirek­tor Johan Carlson, sagte: „Wenn die Leute sagen, wir in Schweden machen ein Experiment mit unserem Sonderweg, würde ich antworten, dass es ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment ist, die gesamte Bevölkerun­gen Monate einzusperr­en.“Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Genauso ist es ja. Es gibt insgesamt sehr wenig Evidenz für Maßnahmen gegen die Pandemie. Es wurde oft unterstell­t, dass das schwedisch­e Modell noch weniger evidenzbas­iert ist als die Lockdown-modelle. Aber die Wahrheit ist, dass es auch für die Lockdown-ansätze kaum Erfahrunge­n gibt. Unsere Tradition ist es, die gesamte Volksgesun­dheit durch langfristi­ge Maßnahmen so lange wie möglich zu schützen. Dagegen gibt es für den scharfen Lockdown einer ganzen Gesellscha­ft eigentlich nur negative Erfahrunge­n von früheren Pandemien, zum Beispiel hatte die von Hongkong keinen Effekt auf die Krankheits­ausbreitun­g.

Sie sind immer gegen Grenzschli­eßungen gewesen. Warum?

Es gibt internatio­nal keine Erfahrunge­n dazu, dass Grenzschli­eßungen als Pandemiebe­kämpfung funktionie­rt haben. Dahingegen haben sie oft sehr negative Effekte. Das haben wir unter anderem bei den Grenzschli­eßungen bei der Ebolaepide­mie in Westafrika gesehen.

Warum hatte Schweden so viel mehr Tote pro 100.000 Einwohner im Vergleich zu Nachbarlän­dern?

Ein großer Anteil der Verstorben­en in Schweden, rund die Hälfte, lebte in speziellen Altenheime­n, wo die Ältesten und besonders Kranken leben. Insgesamt sind dort rund 70.000 Menschen, die meisten sind also gesund geblieben. Einige Altenheime hatten für die Pandemie leider keine Bereitscha­ft und nicht das nötige Wissen, um die Ausbreitun­g zu verhindern. Im Grunde geht es beim Infektions­schutz in Altenheime­n um Dinge, die permanent funktionie­ren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt. Weil das nicht so war, hatten wir zu Beginn der Pandemie

ten Einfluss hat die Politik auf die Strategie genommen?

Wir haben die ganze Zeit einen sehr engen Dialog mit der Politik. Aber sie kümmert sich um ihren Teil und wir um unseren, man mischt sich traditione­ll nicht gegenseiti­g ein. In Schweden genießen Politik und Behörden traditione­ll ein großes Vertrauen im Volk, das darauf vertraut, dass wir das Bestmöglic­he in unserem Bereich tun.

Ihr Chef sagte, Kollegen anderer Gesundheit­sämter hätten sich unter der Hand darüber beklagt, dass Politiker zu viele Entscheidu­ngen übernommen haben, statt sie Experten zu überlassen. Teilen Sie den Eindruck?

Ja, das sind Signale, die auch ich von meinen Kollegen der zuständige­n Behörden in ziemlich vielen Eu-ländern bekommen habe. Viele Fragen zur Pandemie sind dort leider ziemlich politisier­t worden.

Gab es in Schweden viel Kritik an Ihrem Sonderweg?

Nein, es gab eine kleine Forschergr­uppe, die sehr kritisch war, aber wir haben ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerun­g, das zeigen alle Meinungsfo­rschungsun­tersuchung­en. 80 Prozent aller Schweden folgen unseren Empfehlung­en, was eine hohe Zahl ist. Kritik an der Corona-strategie aus dem Volk hat es im Grunde nicht gegeben.

Das müssten Sie einen Ökonomen fragen. Aufgabe meiner Behörde ist es, die Volksgesun­dheit zu schützen, nicht die Wirtschaft. Unser BIP sank zwar nicht so stark wie in vielen anderen Ländern, aber doch deutlich. Schweden ist sehr exportabhä­ngig. Es wäre seltsam, wenn das BIP nicht sinken würde, wenn es im Rest der Welt sinkt.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria