Als das Land ums Überleben kämpfte
Nach Ende des Krieges drohten der erschöpften steirischen Bevölkerung im Sommer 1945 Hunger und Seuchen. Die Protokolle der provisorischen Landesregierung benennen das Elend. Morgen erinnert die offizielle Steiermark mit einem Festakt an die Zeit des Schreckens und des Neubeginns vor 75 Jahren.
Wir stehen vor einer Katastrophe des Hungers und der Seuchen“, beschreibt Karl Renner die verheerende Situation in der erst vor wenigen Wochen wieder errichteten Republik Österreich. Der Staatskanzler ist an diesem 20. Mai 1945 nach Graz gekommen, um der provisorischen steirischen Landesregierung in deren ersten Sitzung einen Lagebericht zu geben. Erst zwölf Tage zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht kapituliert, bereits am 27. April war von Karl Renner in Wien eine provisorische Regierung gebildet worden, die umgehend den 1938 vollzogenen Anschluss Österreichs an das Nazireich annullierte. Das Amtsgebiet der neuen Regierung erstreckt sich vorerst nur auf den von der Roten Armee besetzten Teil der Republik. Die westlichen Bundesländer halten noch Distanz, misstrauen einer Regierung, die mit dem Wohlwollen von Stalins Armee entstanden war.
Das Salzkammergut besetzen die Amerikaner, im Murtal beginnt ab Judenburg britisches Gebiet, aber sonst ist die Steiermark großteils in der Hand der Roten Armee. Der Sozialist Reinhold Machold bildet mit der neu gegründeten steirischen Volkspartei unter deren Obmann Alois Dienstleder und den Kommunisten mit Viktor Elser eine vorläufige Landesregierung, die sich am 20. Mai zu ihrer ersten Sitzung mit dem Staatskanzler aus Wien als Gast in der Burg versammelt.
Renner sieht als erste Aufgabe, den Schutt des Nationalsozialismus, der jede noch so bescheidene staatliche Zelle durchdrungen habe, wegzuräumen. Daneben habe man es mit einer russischen Besatzungsarmee zu tun, zu deren Eigenart es gehöre, dass Orts- und Platzkommanden völlig unabhängig voneinander arbeiten. Und das Land, sagt der Kanzler gestützt auf Unterlagen der steirischen Handelskammer und der Landwirtschaftskammer, stehe jetzt vor einer drohenden Ernährungskatastrophe. Noch zehn Wochen sei es hin bis zu einer neuen Ernte, das vorhandene Getreide reiche aber nur noch für drei. „Für sieben Wochen wissen wir nicht, wie wir die Ernährung sicherstellen können“, bekennt der Kanzler. Man sorgt sich auch um die Industrie, denn die sowjetischen Besatzer demontieren Anlagen, die sie für deutsches Vermögen halten, als Beutegut.
Landeshauptmann Machold fürchtet um die Einheit der Steiermark, denn auch bulgarische Truppen und die Tito-armee haben Orte unter ihre Kontrolle gebracht: „Kommt keine einheitliche Besetzung zustande, so hört die Steiermark als Land zu bestehen auf.“
Die Landwirtschaftskammer erläutert, dass im Grazer Gebiet die tägliche Milchlieferung von
45.000 Liter noch im Jahr 1944 auf derzeit 500 Liter gefallen ist. Die Pferdeherden der Roten Armee weiden die Heuwiesen ab, die eigentlich als Futter für die heimischen Milchkühe dienen sollen. Für Sommergetreide anstelle der zerstörten Wintersaat fehlt Saatgut. Um die Erzeugung von Lebensmitteln zu ermöglichen, wird das Requirieren von Vieh und Maschinen empfohlen. Und man müsse für die Sicherheit der Transporte vor Plünderern wie auch vor der Roten Armee sorgen. n der Sitzung am 18. Juli 1945 setzten die Steirer dazu an, das steirische Salzkammergut, das ihnen das Naziregime genommen und dem Gau Oberdonau zugeschlagen hat, zurückzuholen. Jetzt fordert die
Iprovisorische Landesregierung per Antrag an die Staatsregierung das Ausseerland zurück. Erst Anfang Juli 1948 wird Aussee wieder steirisch.
In der Steiermark ändern sich Ende Juli die Besatzungsverhältnisse. Die Briten lösten die Rote Armee ab. Am 8. August begrüßt Oberst Alexander C. Wilkinson als Chef der britischen Militärregierung die provisorische Landesregierung: „Es liegen schwere Zeiten vor uns. An Lebensmitteln dürfte gerade so viel vorhanden sein, um die Bevölkerung notdürftig zu versorgen. Das Heizmaterial wird nicht einmal genügen für Heiz- und Kochzwecke.“Die Briten helfen. Bis Ende November schicken sie 15.000 Tonnen Weizen und tausend Waggons
Mehl in die Steiermark, sie liefern 230 Tonnen Schweinefett, 112 Tonnen Pflanzenfett und elf Tonnen Speiseöl. Und doch reicht auch das nur für magere Rationen: Die Lebensmittel reichen gerade für 1100 bis 1200 Kalorien täglich pro Erwachsenen, statt der 2500 bis 3000 in normalen Zeiten. Das Land darbt. Menschen magern ab, viele sind dadurch nicht mehr arbeitsfähig. Die Säuglingssterblichkeit schnellt auf bis zu 34 Prozent hinauf, in einem Ort sogar auf 40 Prozent.
Noch einmal reist Karl Renner in seiner Funktion als Staatskanzler zu einer Landesregierungssitzung nach Graz, zu der am 20. November 1945. An diesem Tag beginnt übrigens in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Ns-regimes. Österreich und die Steiermark stehen fünf Tage vor den ersten Wahlen nach Kriegsende. Man steckt ab, was nach den Wahlen zu geschehen hat, wann sich die neuen Parlamente und Regierungen konstituieren werden, beschließt, die vor 1938 geltende Landesverfassung wieder in Kraft zu setzen. ie Landtagswahlen gewinnt die ÖVP mit absoluter Mehrheit, dahinter SPÖ und KPÖ. Der neue Landtag wählt am 28. Dezember Anton Pirchegger von der Volkspartei zum Landeshauptmann, Reinhold Machold zu dessen Stellvertreter. Zuvor legt Machold Rechenschaft über die vergangenen zehn Krisenmonate ab und geht auf die wachsende Kritik aus der Bevölkerung ein: „Ich müsste den vielen Menschen, die jetzt unzufrieden sind und in dieser begreiflichen Unzufriedenheit vielfach eine ungerechte Kritik an der Gegenwart üben und die vorausgegangenen schweren Kriegszeiten schon vergessen zu haben scheinen, diese Tage wieder ins Gedächtnis zurückrufen.“
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