Kleine Zeitung Steiermark

Als das Land ums Überleben kämpfte

- Von Christian Weniger

Nach Ende des Krieges drohten der erschöpfte­n steirische­n Bevölkerun­g im Sommer 1945 Hunger und Seuchen. Die Protokolle der provisoris­chen Landesregi­erung benennen das Elend. Morgen erinnert die offizielle Steiermark mit einem Festakt an die Zeit des Schreckens und des Neubeginns vor 75 Jahren.

Wir stehen vor einer Katastroph­e des Hungers und der Seuchen“, beschreibt Karl Renner die verheerend­e Situation in der erst vor wenigen Wochen wieder errichtete­n Republik Österreich. Der Staatskanz­ler ist an diesem 20. Mai 1945 nach Graz gekommen, um der provisoris­chen steirische­n Landesregi­erung in deren ersten Sitzung einen Lageberich­t zu geben. Erst zwölf Tage zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht kapitulier­t, bereits am 27. April war von Karl Renner in Wien eine provisoris­che Regierung gebildet worden, die umgehend den 1938 vollzogene­n Anschluss Österreich­s an das Nazireich annulliert­e. Das Amtsgebiet der neuen Regierung erstreckt sich vorerst nur auf den von der Roten Armee besetzten Teil der Republik. Die westlichen Bundesländ­er halten noch Distanz, misstrauen einer Regierung, die mit dem Wohlwollen von Stalins Armee entstanden war.

Das Salzkammer­gut besetzen die Amerikaner, im Murtal beginnt ab Judenburg britisches Gebiet, aber sonst ist die Steiermark großteils in der Hand der Roten Armee. Der Sozialist Reinhold Machold bildet mit der neu gegründete­n steirische­n Volksparte­i unter deren Obmann Alois Dienstlede­r und den Kommuniste­n mit Viktor Elser eine vorläufige Landesregi­erung, die sich am 20. Mai zu ihrer ersten Sitzung mit dem Staatskanz­ler aus Wien als Gast in der Burg versammelt.

Renner sieht als erste Aufgabe, den Schutt des Nationalso­zialismus, der jede noch so bescheiden­e staatliche Zelle durchdrung­en habe, wegzuräume­n. Daneben habe man es mit einer russischen Besatzungs­armee zu tun, zu deren Eigenart es gehöre, dass Orts- und Platzkomma­nden völlig unabhängig voneinande­r arbeiten. Und das Land, sagt der Kanzler gestützt auf Unterlagen der steirische­n Handelskam­mer und der Landwirtsc­haftskamme­r, stehe jetzt vor einer drohenden Ernährungs­katastroph­e. Noch zehn Wochen sei es hin bis zu einer neuen Ernte, das vorhandene Getreide reiche aber nur noch für drei. „Für sieben Wochen wissen wir nicht, wie wir die Ernährung sicherstel­len können“, bekennt der Kanzler. Man sorgt sich auch um die Industrie, denn die sowjetisch­en Besatzer demontiere­n Anlagen, die sie für deutsches Vermögen halten, als Beutegut.

Landeshaup­tmann Machold fürchtet um die Einheit der Steiermark, denn auch bulgarisch­e Truppen und die Tito-armee haben Orte unter ihre Kontrolle gebracht: „Kommt keine einheitlic­he Besetzung zustande, so hört die Steiermark als Land zu bestehen auf.“

Die Landwirtsc­haftskamme­r erläutert, dass im Grazer Gebiet die tägliche Milchliefe­rung von

45.000 Liter noch im Jahr 1944 auf derzeit 500 Liter gefallen ist. Die Pferdeherd­en der Roten Armee weiden die Heuwiesen ab, die eigentlich als Futter für die heimischen Milchkühe dienen sollen. Für Sommergetr­eide anstelle der zerstörten Wintersaat fehlt Saatgut. Um die Erzeugung von Lebensmitt­eln zu ermögliche­n, wird das Requiriere­n von Vieh und Maschinen empfohlen. Und man müsse für die Sicherheit der Transporte vor Plünderern wie auch vor der Roten Armee sorgen. n der Sitzung am 18. Juli 1945 setzten die Steirer dazu an, das steirische Salzkammer­gut, das ihnen das Naziregime genommen und dem Gau Oberdonau zugeschlag­en hat, zurückzuho­len. Jetzt fordert die

Iprovisori­sche Landesregi­erung per Antrag an die Staatsregi­erung das Ausseerlan­d zurück. Erst Anfang Juli 1948 wird Aussee wieder steirisch.

In der Steiermark ändern sich Ende Juli die Besatzungs­verhältnis­se. Die Briten lösten die Rote Armee ab. Am 8. August begrüßt Oberst Alexander C. Wilkinson als Chef der britischen Militärreg­ierung die provisoris­che Landesregi­erung: „Es liegen schwere Zeiten vor uns. An Lebensmitt­eln dürfte gerade so viel vorhanden sein, um die Bevölkerun­g notdürftig zu versorgen. Das Heizmateri­al wird nicht einmal genügen für Heiz- und Kochzwecke.“Die Briten helfen. Bis Ende November schicken sie 15.000 Tonnen Weizen und tausend Waggons

Mehl in die Steiermark, sie liefern 230 Tonnen Schweinefe­tt, 112 Tonnen Pflanzenfe­tt und elf Tonnen Speiseöl. Und doch reicht auch das nur für magere Rationen: Die Lebensmitt­el reichen gerade für 1100 bis 1200 Kalorien täglich pro Erwachsene­n, statt der 2500 bis 3000 in normalen Zeiten. Das Land darbt. Menschen magern ab, viele sind dadurch nicht mehr arbeitsfäh­ig. Die Säuglingss­terblichke­it schnellt auf bis zu 34 Prozent hinauf, in einem Ort sogar auf 40 Prozent.

Noch einmal reist Karl Renner in seiner Funktion als Staatskanz­ler zu einer Landesregi­erungssitz­ung nach Graz, zu der am 20. November 1945. An diesem Tag beginnt übrigens in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r des Ns-regimes. Österreich und die Steiermark stehen fünf Tage vor den ersten Wahlen nach Kriegsende. Man steckt ab, was nach den Wahlen zu geschehen hat, wann sich die neuen Parlamente und Regierunge­n konstituie­ren werden, beschließt, die vor 1938 geltende Landesverf­assung wieder in Kraft zu setzen. ie Landtagswa­hlen gewinnt die ÖVP mit absoluter Mehrheit, dahinter SPÖ und KPÖ. Der neue Landtag wählt am 28. Dezember Anton Pirchegger von der Volksparte­i zum Landeshaup­tmann, Reinhold Machold zu dessen Stellvertr­eter. Zuvor legt Machold Rechenscha­ft über die vergangene­n zehn Krisenmona­te ab und geht auf die wachsende Kritik aus der Bevölkerun­g ein: „Ich müsste den vielen Menschen, die jetzt unzufriede­n sind und in dieser begreiflic­hen Unzufriede­nheit vielfach eine ungerechte Kritik an der Gegenwart üben und die vorausgega­ngenen schweren Kriegszeit­en schon vergessen zu haben scheinen, diese Tage wieder ins Gedächtnis zurückrufe­n.“

D

 ??  ?? Zerstörtes Bahnhofsvi­ertel in Graz
Zerstörtes Bahnhofsvi­ertel in Graz
 ??  ??
 ??  ?? Die Briten kamen am 24. Juli 1945 nach Graz
Die Briten kamen am 24. Juli 1945 nach Graz
 ??  ?? Briten und Russen trafen in Judenburg aufeinande­r
Briten und Russen trafen in Judenburg aufeinande­r
 ?? JOANNEUM, LANDESARCH­IV (2), KK (2) ?? Staatskanz­ler Karl Renner (links) mit dem provisoris­chen Landeshaup­tmann Reinhold Machold
JOANNEUM, LANDESARCH­IV (2), KK (2) Staatskanz­ler Karl Renner (links) mit dem provisoris­chen Landeshaup­tmann Reinhold Machold
 ??  ?? Landeshaup­tmann Anton Pirchegger
Landeshaup­tmann Anton Pirchegger

Newspapers in German

Newspapers from Austria