Zerreißprobe für Frankreich
Der Terror ist ein Belastungstest für ein Land, das mit seiner Geschichte der Idealfeind des radikalen Islamismus ist. Doch Frankreichs Kampf kann zu einem Vorbild werden.
Es ist ein Déjà-vu. Im Jänner 2015 hatten mehr als vier Millionen Franzosen demonstriert, um nach den islamistischen Attentaten Einheit zu zeigen. Frankreich war Charlie, bis auf wenige Ausnahmen. In diesen Tagen ist aus dem Bekenntnis „Je suis Charlie“ein neuer Slogan erwachsen: „Ich bin Lehrer“. Die bestialische Enthauptung des Lehrers Samuel Paty wird von vielen Franzosen als Kriegserklärung empfunden, als ein Angriff auf das Herz der Republik, auf die Schule, über deren Türen im ganzen Land dieselbe Devise steht: Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. Ein Déjà-vu sind die Tausenden, die für die Meinungsfreiheit auf die Straße gehen, selbst in Zeiten der Pandemie. Ein Déjà-vu auch die Blumen und Kerzen am Fuß der Statue auf der Pariser Place de la République, die sinnbildlich die Republik verkörpert.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach vom Block, den die Nation bilden müsse, und sagte: „Sie werden nicht durchkommen.“In diesem Satz schwang in Wahrheit die Frage mit: Sind sie nicht schon längst da? Spätestens seit dem Attentat auf der Strandpromenade von Nizza am Nationalfeiertag ist klar: Im Visier des radikalen Islam steht ganz Frankreich, steht ein Lebensstil, steht vor allem der Wunsch, die Nation der Menschenrechte und der freien Meinungsäußerung zu brechen. Nun sollen die Lehrer Angst haben. Und es fühlt sich an wie eine kollektive Zerreißprobe: Wie lange hält die Gesellschaft das noch aus, ohne jeden Muslim dafür zu stigmatisieren, was im Namen seiner Religion verbrochen wird?
Frankreich ist in einer besonderen Lage. Es ist der Idealfeind des radikalen Islamismus. Das hängt mit seiner Geschichte als Kolonialmacht und der großen Zahl von Bürgern zusammen, die ihre Wurzeln im Maghreb haben und in der dritten Generation feststellten, dass sie noch nicht oder nicht mehr Teil der französischen Gesellschaft sind. Die Gesellschaft hat sich selbst in Parallelgesellschaften zerlegt. Gegen diese muss Frankreich jetzt einen exemplarischen Kampf führen, der ein Vorbild auch für andere sein könnte. Dazu gehört, sich nichts mehr vorzumachen. Bereits 2004 ist in einem Bericht darauf hingewiesen worden, dass es in bestimmten Schulen nicht mehr möglich war, den Holocaust zu unterrichten, die Dreyfus-affäre durchzunehmen oder über Voltaire zu sprechen. Was tun, wenn man nicht mehr „Madame Bovary“im Unterricht lesen kann? Was, wenn ein Siebentklassler behauptet, die Scharia sei wichtiger als die Gesetze der Republik? rankreich steht am Scheideweg. Das Recht auf Blasphemie, das es nicht in allen Demokratien gibt und auf dem die Franzosen beharren, mag einem altmodisch vorkommen. Aber je höher der Preis ist, den die Franzosen dafür bezahlen, desto härter werden sie dafür kämpfen müssen. Macron hat in einer bemerkenswerten Grundsatzrede die Grenzen der Toleranz gezogen. Wo sich der Islam als Separatismus zeige, werde ihn die Republik bekämpfen.
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