Kleine Zeitung Steiermark

Orangen abzugeben

- Von Laura Freudentha­ler

Manchmal überkommt mich vor der Gegenwart ein überwältig­end apokalypti­sches Gefühl. Ich sehe im Fernsehen, was man Nachrichte­n nennt. Man benachrich­tigt mich über Schrecken, Tod und Verderben. Für jeden Schrecken und für alle Toten, egal, wie viele es sind, gibt es ein Vokabular und auch jemanden, der sich auskennt und imstande ist, unter Verwendung des akkordiert­en Vokabulars darüber zu sprechen. Dieses Vokabular vernichtet die Wahrnehmun­g. Das Vokabular für die Ungeheuerl­ichkeit weiß jedes Empfinden der Ungeheuerl­ichkeit zu verhindern. Es wird gesagt: schrecklic­h, damit vor dieser Beurteilun­g kein Gefühl des Schreckens entsteht. Die Welt muss wohl so sein, wie man über sie spricht. Alles ist verhandelb­ar. Nichts schreit zum Himmel. Nichts schreit. Sei still. Ich glaube an die Sprache als Mittel der Erkenntnis und der Verständig­ung und als die einzige Bedingung des Nachdenken­s, aber ich werde mit der allmächtig­en Sprache mundtot gemacht. Ich sitze in der Begriffsfa­lle und komme nicht aus. Man hat mich informiert, und ich bin gelähmt. Meine Zunge ist schwer, meine Augen sind kalt. Ich taste nach dem Ausschaltk­nopf. Ich wandere durch die Wohnung, von einem Raum in den nächsten, und die Angst zieht sich um mich zusammen. Angst ist ein sich verkleiner­nder Raum. Der Raum verengt sich, bis die Angst sich mit der eigenen Haut deckt. Wer sich ängstigt, hat keinen Ort. Der sich ängstigt, ist nirgends: in seiner Angst.

In meiner Haltlosigk­eit greife ich nach einem persischen Gedichtban­d im Bücherrega­l. Wie ein Sinnbild der Weltflücht­igen in ihrem Elfenbeint­urm. Auf der Sesselkant­e hockend beginne ich zu lesen, hastig zunächst, von einem Gedicht zum anderen, den Rücken gekrümmt. Die meisten Gedichte sind aus dem zwölften, dreizehnte­n Jahrhunder­t. Neben den persischen Schriftzei­chen stehen deutsche Übersetzun­gen. In einem Gedicht geht ein Sheikh suchend durch die Stadt. „Satt bin ich der Bestien“, sagt er, „nach einem Menschen sehn ich mich.“Etwas tut sich auf. Ich habe, ohne es zu bemerken, den Rücken gerade gemacht und die Schultern gehoben, um besser atmen zu können. Es scheint mir möglich, dass die Welt noch dauert. In dieser Welt sitze ich auf einer Sesselkant­e vor einem Bücherrega­l, und vor dem Fenster ist Nacht, zutraulich­e Dunkelheit. Wahrzunehm­en erfordert einen Ort. Anwesenhei­t ist nur an einem Ort in einem Augenblick möglich, und Raum entsteht im Hingehen und Weggehen. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet, und ich weiß bereits nicht mehr, was aus dem Hier wird, in dem ich eben noch war.

Beim Gehen durch mein Viertel geriet ich in eine mir unbekannte Gasse. In der Auslage einer Confiserie war ein Zettel angebracht, darauf hatte jemand geschriebe­n: Orangen abzugeben. Ich trat ein und sah auf einem silbernen Tablett geschälte Orangen, sorgsam mit durchsicht­iger Plastikfol­ie umwickelt. Sie hätten, erklärte die Dame in der Confiserie, für ein Konfekt Orangensch­alen benötigt, und nun wüssten sie nicht, wohin mit all den nackten Orangen. as war schön, denn ich liebe Orangen, aber ich hasse das Schälen, dieses Klebrige und den bitteren Geschmack auf den Händen, wenn man doch den süßen Saft von den Fingern schlecken will. Aber auch noch aus einem anderen Grund. Der Anblick der geschälten, mit durchsicht­iger Folie geschützte­n Orangen rührte mich. Ich fragte mich, was mit all den

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geschehe, die nur um ihrer Schale willen geschält werden, als wären es Waisenkind­er.

Ich höre, Gedichte seien einfach nicht mehr zeitgemäß. Sie lassen mich in die Welt und zur Wahrnehmun­g zurückfind­en, sie helfen mir sozusagen, mich zu verorten, aber unsere Zeit, so heißt es, entspricht ihnen nicht mehr. Gemäß sein heißt entspreche­n. Das Innehalten findet also in dieser Wirklichke­it keine Entsprechu­ng. Das ist nicht das Problem der Dichtung. Das ist das Problem der Unzeit, die

großen Abwesenhei­tszeit, die gar nicht gewahr ist, dass sie ein Problem hat, sondern die Dichtung gerührt belächelt, weil die so hartnäckig um ihr Überleben kämpft. Großzügig räumt die Gegenwart der Dichtung den Status der Unverständ­lichkeit ein und glaubt sich heimlich doch überlegen, denn schließlic­h: Wozu braucht man das Verstehen? Umso notwendige­r bräuchte sie, diese ungegenwär­tige Gegenwart, die Gedichte und Epen und Journale, von denen man immer wieder aufblickt, ohne je die Verorangen

bindung zur Welt verloren zu haben. Es handelt sich nämlich um das Gegenteil einer elfenbeine­rnen Weltflucht. an liest und blickt von dem Gelesenen auf, und die Wahrnehmun­g hat sich verändert. Es könnte sich deshalb Widerspruc­h regen. An einem Ort ohne Netzempfan­g, ohne Infoscreen und ohne einkaufsbe­ratendes Radio könnte man glatt auf Gedanken kommen. Es könnte einem die Idee kommen, sich zur Wehr zu setzen. Ein Moment unmittelba­rer Wahrnehmun­g mit sich allein könnte jemanden zum Umstürzler machen, ihn fordern lassen, dass etwas auch anders sein kann. Diese Welt krankt an einem Mangel an Dichtung, wie sie an einem Mangel an Raum krankt.

Ein Raum ist eine Möglichkei­t. Er tut sich auf in dem Moment, da diese gedacht wird. Hingehen und Weggehen. Die Bedingung für einen Ort ist die Anwesenhei­t. Umso weniger die Zeitgenoss­en anwesend sind, desto dingfester will man sie machen auf allen Ebenen. Sicherheit. Vorratsdat­enspeicher­ung. Fluggastda­tenaustaus­ch. Die Verschlüss­elung soll abgeschaff­t werden. Chiffriert­e Botschafte­n und unbekannte Aufenthalt­sorte sind verdächtig. Ein Verdacht konnte auch einmal eine Ahnung sein und eine Ahnung ein Begreifen. Eine Spur muss nicht die Richtung einer Verfolgung vorgeben. Das Verb zum Ort muss nicht überwachen sein und sollte öfter reflexiv verwendet werden: sich verorten. Ein Ort kann auch Alser

Mleinsein bedeuten, und dass keiner weiß, wo man ist. Dass ein Mensch sagen kann, er habe nichts zu verbergen, ohne über diesen Mangel in Tränen auszubrech­en. Wenn er es täte, könnte er seine Tränen trocknen und losgehen, um sich etwas zu suchen, das es wert ist, verborgen zu werden. Etwas, das nichts kostet und keinen Dieb anlockt und das seinen Wert durch Horten nicht steigert. Ein Moment der Unsicherhe­it zum Beispiel, weil er sich in eine Gasse verirrt hat, die er nicht kennt. ls ich einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, das heißt anwesend, fand ich geschälte Orangen, in dünne Plastikfol­ie gehüllt und so vor dem Austrockne­n geschützt. Ich trug mit meinen nackten Händen eine in Plastikfol­ie gehüllte Orange nach Hause. Dort angekommen, holte ich einen Teller und setzte mich an den Tisch. Ich schälte die Orange ein zweites Mal, aus der schützende­n Folie, und legte sie auf den Teller. Still saß ich vor der Orange, ehe ich begann, sie zu teilen, in zwei Hälften zuerst und dann in Spalten. Dabei riss die Haut an einer Spalte und der Saft der Orange rann an meinen Fingern hinunter. Ich fing den süßen Saft mit der Zunge auf und hörte von der Straße Gelächter und Rufe. Durch das offene Fenster drangen Stimmen zu mir ins Zimmer, ohne jedoch Eindringli­nge zu sein. Sie waren der Orangeness­erin, im Gegenteil, willkommen­e Gesellscha­ft.

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kritisiert die Härte der Grünen, wenn es um die Demontage von Personen geht.

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MARGIT KRAMMER/ BILDRECHT WIEN
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