Orangen abzugeben
Manchmal überkommt mich vor der Gegenwart ein überwältigend apokalyptisches Gefühl. Ich sehe im Fernsehen, was man Nachrichten nennt. Man benachrichtigt mich über Schrecken, Tod und Verderben. Für jeden Schrecken und für alle Toten, egal, wie viele es sind, gibt es ein Vokabular und auch jemanden, der sich auskennt und imstande ist, unter Verwendung des akkordierten Vokabulars darüber zu sprechen. Dieses Vokabular vernichtet die Wahrnehmung. Das Vokabular für die Ungeheuerlichkeit weiß jedes Empfinden der Ungeheuerlichkeit zu verhindern. Es wird gesagt: schrecklich, damit vor dieser Beurteilung kein Gefühl des Schreckens entsteht. Die Welt muss wohl so sein, wie man über sie spricht. Alles ist verhandelbar. Nichts schreit zum Himmel. Nichts schreit. Sei still. Ich glaube an die Sprache als Mittel der Erkenntnis und der Verständigung und als die einzige Bedingung des Nachdenkens, aber ich werde mit der allmächtigen Sprache mundtot gemacht. Ich sitze in der Begriffsfalle und komme nicht aus. Man hat mich informiert, und ich bin gelähmt. Meine Zunge ist schwer, meine Augen sind kalt. Ich taste nach dem Ausschaltknopf. Ich wandere durch die Wohnung, von einem Raum in den nächsten, und die Angst zieht sich um mich zusammen. Angst ist ein sich verkleinernder Raum. Der Raum verengt sich, bis die Angst sich mit der eigenen Haut deckt. Wer sich ängstigt, hat keinen Ort. Der sich ängstigt, ist nirgends: in seiner Angst.
In meiner Haltlosigkeit greife ich nach einem persischen Gedichtband im Bücherregal. Wie ein Sinnbild der Weltflüchtigen in ihrem Elfenbeinturm. Auf der Sesselkante hockend beginne ich zu lesen, hastig zunächst, von einem Gedicht zum anderen, den Rücken gekrümmt. Die meisten Gedichte sind aus dem zwölften, dreizehnten Jahrhundert. Neben den persischen Schriftzeichen stehen deutsche Übersetzungen. In einem Gedicht geht ein Sheikh suchend durch die Stadt. „Satt bin ich der Bestien“, sagt er, „nach einem Menschen sehn ich mich.“Etwas tut sich auf. Ich habe, ohne es zu bemerken, den Rücken gerade gemacht und die Schultern gehoben, um besser atmen zu können. Es scheint mir möglich, dass die Welt noch dauert. In dieser Welt sitze ich auf einer Sesselkante vor einem Bücherregal, und vor dem Fenster ist Nacht, zutrauliche Dunkelheit. Wahrzunehmen erfordert einen Ort. Anwesenheit ist nur an einem Ort in einem Augenblick möglich, und Raum entsteht im Hingehen und Weggehen. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet, und ich weiß bereits nicht mehr, was aus dem Hier wird, in dem ich eben noch war.
Beim Gehen durch mein Viertel geriet ich in eine mir unbekannte Gasse. In der Auslage einer Confiserie war ein Zettel angebracht, darauf hatte jemand geschrieben: Orangen abzugeben. Ich trat ein und sah auf einem silbernen Tablett geschälte Orangen, sorgsam mit durchsichtiger Plastikfolie umwickelt. Sie hätten, erklärte die Dame in der Confiserie, für ein Konfekt Orangenschalen benötigt, und nun wüssten sie nicht, wohin mit all den nackten Orangen. as war schön, denn ich liebe Orangen, aber ich hasse das Schälen, dieses Klebrige und den bitteren Geschmack auf den Händen, wenn man doch den süßen Saft von den Fingern schlecken will. Aber auch noch aus einem anderen Grund. Der Anblick der geschälten, mit durchsichtiger Folie geschützten Orangen rührte mich. Ich fragte mich, was mit all den
D
geschehe, die nur um ihrer Schale willen geschält werden, als wären es Waisenkinder.
Ich höre, Gedichte seien einfach nicht mehr zeitgemäß. Sie lassen mich in die Welt und zur Wahrnehmung zurückfinden, sie helfen mir sozusagen, mich zu verorten, aber unsere Zeit, so heißt es, entspricht ihnen nicht mehr. Gemäß sein heißt entsprechen. Das Innehalten findet also in dieser Wirklichkeit keine Entsprechung. Das ist nicht das Problem der Dichtung. Das ist das Problem der Unzeit, die
großen Abwesenheitszeit, die gar nicht gewahr ist, dass sie ein Problem hat, sondern die Dichtung gerührt belächelt, weil die so hartnäckig um ihr Überleben kämpft. Großzügig räumt die Gegenwart der Dichtung den Status der Unverständlichkeit ein und glaubt sich heimlich doch überlegen, denn schließlich: Wozu braucht man das Verstehen? Umso notwendiger bräuchte sie, diese ungegenwärtige Gegenwart, die Gedichte und Epen und Journale, von denen man immer wieder aufblickt, ohne je die Verorangen
bindung zur Welt verloren zu haben. Es handelt sich nämlich um das Gegenteil einer elfenbeinernen Weltflucht. an liest und blickt von dem Gelesenen auf, und die Wahrnehmung hat sich verändert. Es könnte sich deshalb Widerspruch regen. An einem Ort ohne Netzempfang, ohne Infoscreen und ohne einkaufsberatendes Radio könnte man glatt auf Gedanken kommen. Es könnte einem die Idee kommen, sich zur Wehr zu setzen. Ein Moment unmittelbarer Wahrnehmung mit sich allein könnte jemanden zum Umstürzler machen, ihn fordern lassen, dass etwas auch anders sein kann. Diese Welt krankt an einem Mangel an Dichtung, wie sie an einem Mangel an Raum krankt.
Ein Raum ist eine Möglichkeit. Er tut sich auf in dem Moment, da diese gedacht wird. Hingehen und Weggehen. Die Bedingung für einen Ort ist die Anwesenheit. Umso weniger die Zeitgenossen anwesend sind, desto dingfester will man sie machen auf allen Ebenen. Sicherheit. Vorratsdatenspeicherung. Fluggastdatenaustausch. Die Verschlüsselung soll abgeschafft werden. Chiffrierte Botschaften und unbekannte Aufenthaltsorte sind verdächtig. Ein Verdacht konnte auch einmal eine Ahnung sein und eine Ahnung ein Begreifen. Eine Spur muss nicht die Richtung einer Verfolgung vorgeben. Das Verb zum Ort muss nicht überwachen sein und sollte öfter reflexiv verwendet werden: sich verorten. Ein Ort kann auch Alser
Mleinsein bedeuten, und dass keiner weiß, wo man ist. Dass ein Mensch sagen kann, er habe nichts zu verbergen, ohne über diesen Mangel in Tränen auszubrechen. Wenn er es täte, könnte er seine Tränen trocknen und losgehen, um sich etwas zu suchen, das es wert ist, verborgen zu werden. Etwas, das nichts kostet und keinen Dieb anlockt und das seinen Wert durch Horten nicht steigert. Ein Moment der Unsicherheit zum Beispiel, weil er sich in eine Gasse verirrt hat, die er nicht kennt. ls ich einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, das heißt anwesend, fand ich geschälte Orangen, in dünne Plastikfolie gehüllt und so vor dem Austrocknen geschützt. Ich trug mit meinen nackten Händen eine in Plastikfolie gehüllte Orange nach Hause. Dort angekommen, holte ich einen Teller und setzte mich an den Tisch. Ich schälte die Orange ein zweites Mal, aus der schützenden Folie, und legte sie auf den Teller. Still saß ich vor der Orange, ehe ich begann, sie zu teilen, in zwei Hälften zuerst und dann in Spalten. Dabei riss die Haut an einer Spalte und der Saft der Orange rann an meinen Fingern hinunter. Ich fing den süßen Saft mit der Zunge auf und hörte von der Straße Gelächter und Rufe. Durch das offene Fenster drangen Stimmen zu mir ins Zimmer, ohne jedoch Eindringlinge zu sein. Sie waren der Orangenesserin, im Gegenteil, willkommene Gesellschaft.
A
kritisiert die Härte der Grünen, wenn es um die Demontage von Personen geht.