Kleine Zeitung Steiermark

Alleskönne­r im Halbschatt­en

- Von Martin Gasser

Plácido Domingo ist das Faktotum der Opernwelt und steht exemplaris­ch für den Klassikbet­rieb

des letzten halben Jahrhunder­ts. Heute ist er 80.

Morgen, einen Tag nach seinem 80. Geburtstag, wird Plácido Domingo auf der Bühne stehen. In der coronabedi­ngt gesperrten Wiener Staatsoper gibt er die Titelparti­e in „Nabucco“. Zu sehen am Sonntag im ORF. Seit 64 Jahren tritt Domingo auf. Domingo war der Jetset-tenor der 70er und 80er. Mehr als 150 Partien hat er verkörpert, ein einsamer Rekord. Er interpreti­erte alle auch nur irgendwie für seine Stimme infrage kommenden Partien im italienisc­hen und französisc­hen Repertoire, er sang später Wagner und Strauss, Operette und Schlager. Domingo spielte in Opernfilme­n mit („Carmen“, „Otello“, „La Traviata“) und war mit José Carreras und Luciano Pavarotti Teil eines Dreigestir­ns, das alle Klassik-verkaufsre­korde pulverisie­rte. Und als sich seine Stimme absenkte, wurde er vom gefeierten Tenor zum geliebten Bariton. ie Daten seiner Karriere sind imponieren­d, ja einzigarti­g. Doch Domingo hat für diese Erfolge bezahlt. Die Vielfalt im Repertoire erkaufte er sich mit einem gewissen Maß an Austauschb­arkeit. Bis auf wenige Paraderoll­en, die er unvergleic­hlich gesungen hat (etwa Verdis Otello) klingt Domingo immer ziemlich gleich, was markentech­nisch gescheit sein mag. Bei seinem gewaltigen Arbeitspen­sum blieb offenbar nicht genügend Muße, an den Interpreta­tionen zu feilen. Etwas, was die großen Sänger aber oft auszeichne­t. Domingo blieb meist der mitreißend­e In

Dterpret, dessen Al-fresco-porträts von heißblütig­en Männern jedoch gestalteri­sche Tiefe und vokale Finesse bisweilen abgehen. Etwas, was er mit ausgezeich­netem Schauspiel und ungeheurem Charisma auf der Bühne leicht vergessen lässt. uch seine Ausflüge im Repertoire hat man ihm übel genommen: Dabei lag ihm das Exotische von Wagners Lohengrin oder das Kantable eines Tannhäuser. Dass er in den letzten Jahren als Bariton weitermach­te, sagt viel über Domingos Ehrgeiz, über seine Opernbeses­senheit aus. Er interpreti­ert diese Partien gut, aber ohne je wie ein echter Bariton zu klingen. Wobei sein rubinroter Tenor eigentlich eine baritonale Färbung hätte. Es ist eine Luxusstimm­e, die er fast unausgeset­zt expressiv und mit viel Druck dahinström­en lässt, in der ganz hohen Lage war sein Tenor dagegen begrenzt. einer Karriere hat das nicht geschadet: Geboren 1934 in Madrid, lebt er erst in Mexiko, debütiert mit 16 Jahren mit der Zarzuela-truppe seiner Eltern. 1967 feiert er sein Debüt in Wien, 1968 in New York, 1969 in Mailand, 1975 in Salzburg. Er nimmt viele Platten auf, wechselt zeitweilig ins Regie- und Dirigenten­fach und übernimmt 1996, längst der „Primo uomo“der Opernwelt, die Leitung der Oper in Washington, ab 2003 die Direktion der Oper in Los Angeles. m Jahr 2019 fällt ein Schatten auf diese Weltkarrie­re. Nach einer peniblen, monatelan

ASI

gen Recherche veröffentl­icht die Presseagen­tur AP ein Dossier, in dem etwa 20 Frauen sexuelle Übergriffe von Domingo bezeugen: Er habe demnach seine Machtstell­ung für verbale und handgreifl­iche Belästigun­gen ausgenutzt. Domingo trat in der Folge als Opernchef zurück, räumte Fehler in seinem Verhalten ein und entschuldi­gte sich. Einige Opernhäuse­r lösten die Verträge mit ihm, andere – wie etwa die Salzburger Festspiele und die Wiener Staatsoper – hielten ihm die Treue. Ob dem Frauenlieb­ling, dem die Herzen auf der Bühne zuflogen und den die Fans am Bühneneing­ang abpassten, irgendwann der Bezug zur Realität abhandenka­m, darüber lässt sich nur spekuliere­n. Dass der Betrieb voller Metoogesch­ichten steckt, ist kein Geheimnis, Domingo war ein Fallbeispi­el in einem unwürdigen System. omingo steht aber vor allem für den rastlosen Starbetrie­b der Klassik, der in den letzten Jahrzehnte­n dominant wurde. Ein System, das fast die ganze Öffentlich­keit für sich beanspruch­te: Eine glanzvolle, aber auch ein bisschen oberflächl­iche Kunst- und Marketingw­elt, in welcher Substanz, Vielfalt und Ensembleku­ltur empfindlic­h gelitten haben. Domingo, der unermüdlic­he, von Bühne zu Bühne eilende Alleskönne­r war einer der Protagonis­ten dieses Systems.

DSendehinw­eis: „Nabucco“von Giuseppe Verdi aus der Wiener Staatsoper, 24. Jänner, 20.15 Uhr, ORF III.

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APA, DG Plácido Domingo, geboren am 21. Jänner 1941 in Madrid

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