Der unabdingbare Affront
Das Klimapaket der EU greift in Bereiche ein, in denen Klimaschutz bisher nur als freiwillige Zusatzaufgabe begriffen wurde. Das mag unangenehm sein, unbotmäßig ist es nicht.
Also sprach die EU-Kommission und legte ein Paket auf den Tisch, das sich gewaschen hat. „Fit for 55“nennt sich das lange erwartete Klimaprogramm, dass sicherstellen soll, dass Europa seinen eigenen Ansprüchen beim Klimaschutz gerecht wird – sprich: dass die Union ihre Klimaziele bis 2030 und 2050 erreicht.
Was Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern gemeinsam mit den zuständigen Kommissaren vorgestellt hat, ist weitreichender als alles klimapolitisch bisher Dagewesene. Kaum ein Bereich wird ausgeblendet, die Maßnahmen werden, sofern sie den europäischen Verhandlungsprozess überleben, für fast alle Bürger spürbar sein. Das Fahren mit konventionellen Autos wird wie das Heizen mit Erdöl und das Fliegen teurer, die nationalen Klimaziele werden drastisch verschärft und somit an den EU-Fahrplan angepasst.
Viele werden diese Kursvorgaben aus Brüssel als Affront empfinden. Und es stimmt: Die Klimavorschläge der Kommission sind schwere Kost und lassen Fragen offen. Keiner weiß mit Sicherheit, wer durch die
Kombination aus CO2-Bepreisung und sozialem Klimafonds wie stark getroffen wird. Keiner kann garantieren, wie sich eine CO2-Grenzabgabe auf den Handel auswirkt. Doch der Affront ist unabdingbar.
Denn das „Fit for 55“-Programm unterscheidet sich in einer grundlegenden Eigenschaft von allen bisher vorgelegten Klimapaketen: Es wurde nicht auf Basis der Frage erstellt, was wir uns politisch und finanziell leisten wollen. Diese Herangehensweise führte bisher stets zu ungenügenden Ergebnissen. Diesmal wurde der Klima-Gaul von der anderen Seite aufgezäumt: Man hat das Ziel ins Auge gefasst und eruiert, was zu seiner Erreichung nötig ist. Das Ergebnis mag unerfreulich sein, unbotmäßig ist es nicht.
Europa muss seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent unter das Niveau von 1990 bringen. Jedenfalls dann, wenn es jenen Pariser Klimazielen gerecht werden möchte, auf die sich 2015 die ganze Welt eingeschworen hat und deren Missachtung eine globale Katastrophe nach sich ziehen könnte. In den vergangenen 30 Jahren hat die Union erst ein gutes Drittel des Weges bewältigt, im verbleibenden Jahrzehnt muss der ganze Rest folgen. Dass das ohne Strukturreformen nicht möglich sein wird, ist mit freiem Auge ersichtlich.
Die nun eingebrachten Maßnahmen sind nicht willkürlich gewählt, sie setzen an, wo das klimapolitische Schuhwerk am meisten drückt. Sie greifen ein in Bereiche, in denen Klimaschutz bisher bestenfalls als moralische Fleißaufgabe begriffen wurde. Nun müssen die Vorschläge einen politischen und gesellschaftlichen Diskussionsprozess durchlaufen. Was so tief greift, erfordert Akzeptanz, es kann nicht kurzerhand verordnet werden. er Weg ist noch weit, doch erstmals liegt ein umfassendes Programm vor, das einen möglichen Pfad aus der Klimakrise vorzeichnet. Das kann und darf man als Fortschritt betrachten.
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