„Das führt zu Frust, man ist in einer Abwärtsspirale“
Christa Lohrmann, Institutsvorständin der Pflegewissenschaften der Med Uni Graz, plädiert für den Aufbau einer eigenen Kammer. Pflegekräfte aus Kolumbien können keine Lösung für den Mangelberuf sein.
Seit Jahren ist der Pflegemangel Thema – durch Corona wurde er uns massiv vor Augen geführt …
CHRISTA LOHRMANN: Ich denke, die Covid-19-Situation durch all ihre Begleitumstände hat die Lage nur sichtbarer gemacht. Man darf nicht vergessen, dass sich der Mangel durch die enormen psychischen und physischen Belastungen beschleunigt hat. Denn viele Kolleginnen und Kollegen haben sich dazu entschlossen, den Beruf zu verlassen, oder sind dabei, das konkret zu planen. Das macht die Situation nicht leichter: Ein Drittel der Mitarbeiter ist älter als 50 Jahre und wird in den nächsten Jahren in Pension gehen, wir werden also allein deshalb mehr Pflegepersonen brauchen. Und natürlich auch aufgrund des demografischen Wandels – aber auch das ist keine neue Erkenntnis.
Aber wie viel Pflegekräfte fehlen tatsächlich?
Es gibt eine Pflegepersonalbedarfsprognose vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz von 2019 – demnach liegt die Summe aus Zusatz- und Ersatzbedarf in Österreich bei rund 76.000 Personen geschätzt für den Zeitraum 2017 bis 2030.
Wie lässt sich diese enorme Zahl bewerkstelligen?
Lassen Sie es mich so ausdrücken: Das Problem ist in der Praxis nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen die Pflege verlassen, weil sie keine Freude daran haben oder ihnen der Beruf nicht am Herzen liegt. Es liegt daran, dass sie nicht so pflegen können, wie sie es möchten und sie es gelernt haben. Weil es wenig Personal gibt, bleibt daher nicht genug Zeit für Patienten, Bewohner und Angehörige. Die Pflege wird reduziert auf ein, zwei oder wenige Tätigkeiten, doch das macht diesen Beruf nicht aus. Pflege ist mehr, als nur Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken und Hygienetätigkeiten zu erfüllen. Pflege heißt, sich um kranke Menschen umfassend zu kümmern. Es geht um Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen, es geht um Sterbende, die Begleitung in der letzten Lebensphase. Es geht um Gesundheitsförderung, Beratung, Patientensicherheit, Anleitung und Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. Aber auch um aktuelle Forschungsergebnisse und deren Implementierung und Anwendung. Die Pflege ist sehr umfangund facettenreich. Wenn die Umstände aber nicht stimmen, führt das zu Frust. Man ist dann in einer Abwärtsspirale.
Wie holt man die Pflege aus dieser Spirale wieder heraus?
Niemand in der Pflege will schlechte Arbeit leisten oder sogar Patienten gefährden. Da gehören natürlich Punkte dazu, die zuletzt auch thematisiert wurden: vor allem die Wertschätzung, aber auch flexible Arbeitsplatzmodelle, Karrierechancen und die Bezahlung. Und vielleicht darf ich das hier sagen: Es wird oft über Pflege berichtet, wenn es um etwas Negatives geht, aber zu selten ein positives Bild vermittelt – darüber, was Pflege wirklich leisten kann. Die Gesellschaft muss mehr aufgeklärt werden, was die Mitarbeiter machen – denn es ist ein anspruchsvoller Beruf.
Die Pflege ist in deutschsprachigen Ländern eine Berufsgruppe, die wenig politisch aktiv ist. Auch weil man nicht in einer Kammer registriert ist. Wenn beispielsweise wie im Vereinigten Königreich mehr als 700.000 Leute einer solchen Kammer angehören oder in Schweden über 100.000, hat man natürlich ein ganz anderes Sprachrohr als größte Gruppe im Gesundheitswesen. Das ist sicherlich etwas, das aufgebaut gehört. Denn die Pflege hat in Österreich keine große Lobby.
Können Pfleger aus dem Ausland helfen? Steirische Firmen holen aktuell Kräfte aus Kolumbien.
Die Kollegen, die kommen könnten, sind sicherlich gut qualifiziert – aber möglicherweise auch schnell unglücklich. Außerdem fehlen in den Herkunftsländern dann wieder Pflegekräfte. Das kann mit Sicherheit keine Lösung sein und hilft, wenn, nur kurzfristig.