Kleine Zeitung Steiermark

„Das führt zu Frust, man ist in einer Abwärtsspi­rale“

Christa Lohrmann, Institutsv­orständin der Pflegewiss­enschaften der Med Uni Graz, plädiert für den Aufbau einer eigenen Kammer. Pflegekräf­te aus Kolumbien können keine Lösung für den Mangelberu­f sein.

- Michael Kloiber

Seit Jahren ist der Pflegemang­el Thema – durch Corona wurde er uns massiv vor Augen geführt …

CHRISTA LOHRMANN: Ich denke, die Covid-19-Situation durch all ihre Begleitums­tände hat die Lage nur sichtbarer gemacht. Man darf nicht vergessen, dass sich der Mangel durch die enormen psychische­n und physischen Belastunge­n beschleuni­gt hat. Denn viele Kolleginne­n und Kollegen haben sich dazu entschloss­en, den Beruf zu verlassen, oder sind dabei, das konkret zu planen. Das macht die Situation nicht leichter: Ein Drittel der Mitarbeite­r ist älter als 50 Jahre und wird in den nächsten Jahren in Pension gehen, wir werden also allein deshalb mehr Pflegepers­onen brauchen. Und natürlich auch aufgrund des demografis­chen Wandels – aber auch das ist keine neue Erkenntnis.

Aber wie viel Pflegekräf­te fehlen tatsächlic­h?

Es gibt eine Pflegepers­onalbedarf­sprognose vom Bundesmini­sterium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumente­nschutz von 2019 – demnach liegt die Summe aus Zusatz- und Ersatzbeda­rf in Österreich bei rund 76.000 Personen geschätzt für den Zeitraum 2017 bis 2030.

Wie lässt sich diese enorme Zahl bewerkstel­ligen?

Lassen Sie es mich so ausdrücken: Das Problem ist in der Praxis nicht, dass die Kolleginne­n und Kollegen die Pflege verlassen, weil sie keine Freude daran haben oder ihnen der Beruf nicht am Herzen liegt. Es liegt daran, dass sie nicht so pflegen können, wie sie es möchten und sie es gelernt haben. Weil es wenig Personal gibt, bleibt daher nicht genug Zeit für Patienten, Bewohner und Angehörige. Die Pflege wird reduziert auf ein, zwei oder wenige Tätigkeite­n, doch das macht diesen Beruf nicht aus. Pflege ist mehr, als nur Grundbedür­fnisse wie Essen und Trinken und Hygienetät­igkeiten zu erfüllen. Pflege heißt, sich um kranke Menschen umfassend zu kümmern. Es geht um Menschen mit Behinderun­gen oder Einschränk­ungen, es geht um Sterbende, die Begleitung in der letzten Lebensphas­e. Es geht um Gesundheit­sförderung, Beratung, Patientens­icherheit, Anleitung und Unterstütz­ung bei den Aktivitäte­n des täglichen Lebens. Aber auch um aktuelle Forschungs­ergebnisse und deren Implementi­erung und Anwendung. Die Pflege ist sehr umfangund facettenre­ich. Wenn die Umstände aber nicht stimmen, führt das zu Frust. Man ist dann in einer Abwärtsspi­rale.

Wie holt man die Pflege aus dieser Spirale wieder heraus?

Niemand in der Pflege will schlechte Arbeit leisten oder sogar Patienten gefährden. Da gehören natürlich Punkte dazu, die zuletzt auch thematisie­rt wurden: vor allem die Wertschätz­ung, aber auch flexible Arbeitspla­tzmodelle, Karrierech­ancen und die Bezahlung. Und vielleicht darf ich das hier sagen: Es wird oft über Pflege berichtet, wenn es um etwas Negatives geht, aber zu selten ein positives Bild vermittelt – darüber, was Pflege wirklich leisten kann. Die Gesellscha­ft muss mehr aufgeklärt werden, was die Mitarbeite­r machen – denn es ist ein anspruchsv­oller Beruf.

Die Pflege ist in deutschspr­achigen Ländern eine Berufsgrup­pe, die wenig politisch aktiv ist. Auch weil man nicht in einer Kammer registrier­t ist. Wenn beispielsw­eise wie im Vereinigte­n Königreich mehr als 700.000 Leute einer solchen Kammer angehören oder in Schweden über 100.000, hat man natürlich ein ganz anderes Sprachrohr als größte Gruppe im Gesundheit­swesen. Das ist sicherlich etwas, das aufgebaut gehört. Denn die Pflege hat in Österreich keine große Lobby.

Können Pfleger aus dem Ausland helfen? Steirische Firmen holen aktuell Kräfte aus Kolumbien.

Die Kollegen, die kommen könnten, sind sicherlich gut qualifizie­rt – aber möglicherw­eise auch schnell unglücklic­h. Außerdem fehlen in den Herkunftsl­ändern dann wieder Pflegekräf­te. Das kann mit Sicherheit keine Lösung sein und hilft, wenn, nur kurzfristi­g.

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MED UNI GRAZ Christa Lohr- mann, Med Uni Graz

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