„Amazon-Boykott ist nicht die Lösung“
Migrationsforscherin Judith Kohlenberger über die Ausbeutung von Arbeitnehmern, die Rolle des Billiglohnsektors, Hürden für ukrainische Flüchtlinge am Arbeitsmarkt und die große Stärke von Diversität.
Viele ukrainische Geflüchtete sind in Österreich angekommen. Welche Hürden tun sich am Arbeitsmarkt auf? JUDITH KOHLENBERGER: Die Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen dauert manchmal länger als angenommen. Viele nehmen Tätigkeiten an, für die sie überqualifiziert sind, da Geflüchtete oft kaum Deutsch sprechen und Anerkennungsverfahren lange dauern. Vor allem geflüchtete Frauen sind von Dequalifikation betroffen, man müsste die Anerkennung von Berufen lockern und beschleunigen.
Demografisch kaum, jetzt kommen vor allem Frauen mit Kindern, aber auch ältere Personen mit Betreuungsbedarf. 2015 kamen vor allem junge Männer – sie standen schneller für den Arbeitsmarkt zur Verfügung, als Alleinerziehende, die sich schwertun. Dass Ukrainer keine Asylverfahren durchlaufen müssen, hat nicht nur Vorteile. Wenn Geflüchtete registriert sind und die blaue Karte haben, heißt das zwar, dass sie arbeiten dürfen, die meisten brauchen aber weiterhin Unterstützung.
Die Arbeitslosigkeit sank im April auf ein Zehnjahrestief, Hunderttausende Stellen sind unbesetzt. Österreich müsste Migranten doch mit offenen Armen willkommen heißen, oder?
Es zeigt sich leider, wenn man gegen eine Gruppe von Migranten, konkret Geflüchtete, politisch Stimmung macht, dass das auch andere Gruppen von Migranten – nämlich die Expats, die Hochqualifizierten, die Fachkräfte – bei ihrer Ziellandwahl beeinflusst. Es braucht neben strukturellen Reformen wie die der Rot-Weiß-Rot-Karte auch Förderung auf einer immateriellen Ebene: Wie sehr wird man ins kulturelle und soziale Leben hineingelassen? Wann wird man zugehörig gesehen?
Wie weit ist das Wissen, dass Diversität Leistung steigert, in den Firmen bereits durchgesickert?
Auf der abstrakten Ebene ist das vielen Unternehmern bewusst. In der Praxis ist das wesentlich schwieriger, weil der Mensch so angelegt ist, dass er sich am liebsten mit seinesgleichen umgibt. Beim „Onboarding“tun sich heterogene Teams schwerer. Anfangs muss also oft mehr investiert werden, langfristig aber sind die Ergebnisse besser.
Sie führten eine von der AK geförderte Studie zu den Arbeitsbedingungen von Amazon-Zustellern durch. Mit welchem Ergebnis? Zusteller arbeiten unter hohem
Zeitdruck. Dagegen haben sie kaum Handhabe, das liegt vor allem an den rechtlichen Schlupflöchern. Diese ermöglichen Sub- und Subsubunternehmern die Ausbeutung von Arbeitnehmern. Verantwortung wird ausgelagert, Druck ungefiltert weitergegeben. Zusteller haben keine Rechtsansprüche bei Amazon.
Ausbeutung von Arbeitnehmern ist im Rechtsstaat Österreich heute so einfach möglich? Realität und Rechtsanspruch klaffen weit auseinander. Auf dem Papier sind die Verträge meist einwandfrei. Der Zusteller ist fast wie ein eigener Unternehmer für die Zustellung der Pakete zuständig. Viele Zusteller haben uns gesagt, würden sie Pausen einhalten, müssten bis 23 Uhr Pakete ausführen. Zusteller sind fast ausschließlich Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund, sie fordern seltener Rechte ein und haben wenig Beschäftigungsalternativen. Sie fühlen sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit. Dass Fahrer in Plastikflaschen urinieren müssen, weil sie keine Zeit haben, auf die Toilette zu gehen, fand ich erschreckend.
Ist es überhaupt moralisch vertretbar, bei einem solchen Versandhändler einzukaufen?
Ich glaube nicht, dass ein gene