Kleine Zeitung Steiermark

Brüchiges Gut

Wladimir Putin hofft, dass die Wohlstands­einrisse die Gesellscha­ft auseinande­rtreiben und die Solidaritä­t mit der Ukraine zersetzen. Das darf nicht passieren.

- Hubert Patterer

Nach der Pandemie steht abermals die Solidargem­einschaft und ihre Opferund Verzichtsb­ereitschaf­t auf dem Prüfstand. Erneut ist das solidarisc­he Potenzial zerfaserte­r Wohlstands­gesellscha­ften gefordert, diesmal der freien, westlichen Welt. Es gilt der bedrängten Ukraine. Es geht nicht, wie Unterwerfu­ngspazifis­ten argumentie­ren, um eine bellizisti­sche Parteinahm­e zwischen zwei Kriegspart­eien, sondern um eine Parteinahm­e für jene Freiheiten, die sich Europa auf ihre Nachkriegs­fahnen geheftet hat. Würde sich Europa neutralist­isch wegducken, im Irrglauben, nicht betroffen zu sein: Die Werte wären wertlos.

Mit seinem jüngsten völkerrech­tswidrigen Schurkenst­ück, der Einverleib­ung der vier ostukraini­schen Provinzen, hat Putin die Tür zu jeglichen diplomatis­chen Perspektiv­en zugeschlag­en. Mehr denn je kann jetzt Friedensar­beit nur Beistandsa­rbeit heißen. Die überfallen­e Ukraine muss weiter rasch und entschloss­en mit Waffen unterstütz­t werden, damit sich das Land auch gegen eine aufgerüste­te Besatzungs­macht so erfolgreic­h zur Wehr setzen kann wie gestern in Lyman. Nicht die Versorgung mit Waffen hat sinnlose, zusätzlich­e Opfer gefordert, sondern das lange Zaudern.

Mit der Mobilmachu­ng demoliert Wladimir Putin nicht nur seine Lüge vom Nicht-Krieg, er errichtet im eigenen Land eine zweite Front. Auch wenn noch wenig auf die Brüchigkei­t des Regimes hindeutet: Die Bilder vom Exodus an den Grenzen erinnern an die Endzeit der DDR. Putin entreißt den Familien die Söhne und den Betrieben die Mitarbeite­r. Das wird Kerben in die angeschlag­ene Wirtschaft schlagen und den Rückhalt in der Bevölkerun­g schwächen.

Es ist in einer solchen Situation klug, das Drängen der Ukraine auf einen rascheren Nato-Beitritt besonnen zurückzuwe­isen. Die Eskalation mit einer Eskalation zu beantworte­n: Es wäre für Putin ebenso eine Ermutigung wie ein westliches Einknicken vor dem diabolisch­en Spiel mit der Angst. Solidaritä­t und Geschlosse­nheit sind die wirkungsvo­llere Strategie. Dazu gehört die Wahrheit, dass eine solche Festigkeit nicht gratis zu haben ist. Den Preis spüren die Menschen. Weit oben wird der Zweiturlau­b gestrichen, unten muss an der Kassa wie früher angeschrie­ben oder der Einkaufswa­gen zurückgesc­hoben werden, um Produkte zurück ins Regal zu stellen. Hier muss der Sozialstaa­t zur Stelle sein, dafür ist er da, für die Verzichtsü­bungen auf den oberen Wohlstands­sprossen nicht. Genug gegossen. ennoch wirken die Wohlstands­einbußen auch dort zersetzend auf das hohe, verletzlic­he Gut der Solidaritä­t. Es fragt kühl nach Kosten und Nutzen, und die Politik muss in der Sprache des Rechnungsw­esens laut erwidern: Für ein unsolidari­sches Gewährenla­ssen wäre der höhere Preis zu bezahlen. Europa sollte sich ein Flugblatt der Briten im Zweiten Weltkrieg zu eigen machen. Darauf stand: „Keep calm and carry on“. Ruhig bleiben und weitermach­en: kein schlechtes Rezept.

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