Brüchiges Gut
Wladimir Putin hofft, dass die Wohlstandseinrisse die Gesellschaft auseinandertreiben und die Solidarität mit der Ukraine zersetzen. Das darf nicht passieren.
Nach der Pandemie steht abermals die Solidargemeinschaft und ihre Opferund Verzichtsbereitschaft auf dem Prüfstand. Erneut ist das solidarische Potenzial zerfaserter Wohlstandsgesellschaften gefordert, diesmal der freien, westlichen Welt. Es gilt der bedrängten Ukraine. Es geht nicht, wie Unterwerfungspazifisten argumentieren, um eine bellizistische Parteinahme zwischen zwei Kriegsparteien, sondern um eine Parteinahme für jene Freiheiten, die sich Europa auf ihre Nachkriegsfahnen geheftet hat. Würde sich Europa neutralistisch wegducken, im Irrglauben, nicht betroffen zu sein: Die Werte wären wertlos.
Mit seinem jüngsten völkerrechtswidrigen Schurkenstück, der Einverleibung der vier ostukrainischen Provinzen, hat Putin die Tür zu jeglichen diplomatischen Perspektiven zugeschlagen. Mehr denn je kann jetzt Friedensarbeit nur Beistandsarbeit heißen. Die überfallene Ukraine muss weiter rasch und entschlossen mit Waffen unterstützt werden, damit sich das Land auch gegen eine aufgerüstete Besatzungsmacht so erfolgreich zur Wehr setzen kann wie gestern in Lyman. Nicht die Versorgung mit Waffen hat sinnlose, zusätzliche Opfer gefordert, sondern das lange Zaudern.
Mit der Mobilmachung demoliert Wladimir Putin nicht nur seine Lüge vom Nicht-Krieg, er errichtet im eigenen Land eine zweite Front. Auch wenn noch wenig auf die Brüchigkeit des Regimes hindeutet: Die Bilder vom Exodus an den Grenzen erinnern an die Endzeit der DDR. Putin entreißt den Familien die Söhne und den Betrieben die Mitarbeiter. Das wird Kerben in die angeschlagene Wirtschaft schlagen und den Rückhalt in der Bevölkerung schwächen.
Es ist in einer solchen Situation klug, das Drängen der Ukraine auf einen rascheren Nato-Beitritt besonnen zurückzuweisen. Die Eskalation mit einer Eskalation zu beantworten: Es wäre für Putin ebenso eine Ermutigung wie ein westliches Einknicken vor dem diabolischen Spiel mit der Angst. Solidarität und Geschlossenheit sind die wirkungsvollere Strategie. Dazu gehört die Wahrheit, dass eine solche Festigkeit nicht gratis zu haben ist. Den Preis spüren die Menschen. Weit oben wird der Zweiturlaub gestrichen, unten muss an der Kassa wie früher angeschrieben oder der Einkaufswagen zurückgeschoben werden, um Produkte zurück ins Regal zu stellen. Hier muss der Sozialstaat zur Stelle sein, dafür ist er da, für die Verzichtsübungen auf den oberen Wohlstandssprossen nicht. Genug gegossen. ennoch wirken die Wohlstandseinbußen auch dort zersetzend auf das hohe, verletzliche Gut der Solidarität. Es fragt kühl nach Kosten und Nutzen, und die Politik muss in der Sprache des Rechnungswesens laut erwidern: Für ein unsolidarisches Gewährenlassen wäre der höhere Preis zu bezahlen. Europa sollte sich ein Flugblatt der Briten im Zweiten Weltkrieg zu eigen machen. Darauf stand: „Keep calm and carry on“. Ruhig bleiben und weitermachen: kein schlechtes Rezept.
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