Mephistos Zug
Von Franzobel
Es ist nun 40 Jahre her, dass meine Tante auf dem Christkindlmarkt in München, zu dem wir mit einem lokalen Busunternehmen gefahren waren, meinem
Drängen nachgegeben und mir für Weihnachten um 139 Mark einen kleinen schwarzen Kasten gekauft hat. 139 Mark (1000 Schilling) waren damals eine Stange Geld, besonders für eine Witwe. Vielleicht war es Nostalgie wegen ihres kurz zuvor verstorbenen Mannes, dass meine Tante über das Budget sprang? Der angeheiratete Onkel hatte mir Schach beigebracht, auf einem Brett, das er als 16-Jähriger während seiner Kriegsgefangenschaft in Afrika immer unter dem Kopfpolster versteckt hatte. Mit dem kleinen schwarzen Kasten, Mephisto hieß das Ding, würde ich, so meine und meiner Tante Hoffnung, bald Großmeister sein oder zumindest die Bezirksliga Vöcklabruck gewinnen.
Tatsächlich habe ich dem Schachcomputer mit Müh und Not hin und wieder ein Remis abgerungen. Ein besserer Spieler hätte Mephisto in Grund und Boden rochiert. Mittlerweile ist es umgekehrt, schlagen Computer jeden Weltmeister. Angeblich gibt es winzige Geräte, die kaum zu sehen sind. Von so etwas scheint Schachweltmeister Magnus Carlsen auszugehen, der Hans Niemann recht unverhohlen Betrug unterstellt und damit Schach ins Rampenlicht gebracht hat. Niemann wirkte unkonzentriert, seine Leistungssteigerung sei unerklärlich, und da er früher schon geschummelt habe …
Es folgten wilde Spekulationen, wie so ein Betrug überhaupt möglich sei? Gezinkte Karten, manipulierte Würfel oder eine im Ärmel versteckte zweite Königin kommen eher nicht in Frage. Von vibrierenden Analkugeln war die Rede, von versteckten Sendern in Zahnfüllungen, Ohrenimplantaten. Oder hat er vergessen, vor dem letzten Zug „Uno“zu rufen? Mich interessiert weniger Niemann als die Tatsache, dass der Mensch Maschinen erfunden hat, die intelligenter sind als er. Was bedeutet das? Es gibt bereits Programme mit künstlicher Intelligenz, die Bilder im gewünschten Stil malen. Bald schreiben KIs Bücher, drehen Filme, stellen Diagnosen, operieren, unterrichten, planen, bauen … nd irgendwann stellen sie sich die Frage, wozu sie diese krankheitsanfälligen, eingebildeten, klimaschädigenden humanoiden Hämorrhoiden auf zwei Beinen überhaupt noch brauchen. In jedem Hollywoodfilm würde der Mensch überleben, weil er Gefühl und Empathie besitzt.
Aber in der Realität? Schachspieler werden künftig vor Partien Rizinusöl trinken müssen, aber die Menschheit ist ziemlich im Enddarm. Maschinen ersetzen uns. Alles Science Fiction? Nun, wer hätte gedacht, wie schnell Mephisto unschlagbar wird?
Doch der Mensch ist kreativ. Irgendwie schummeln wir uns durch.
Niemann sei Dank.
1967 in Vöcklabruck geboren, ist Schriftsteller und Sportfan.
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