Den Gefühlen freien Lauf lassen
Die Ausstellung „Identity on the line“im Volkskundemuseum lädt dazu ein, persönliche Migrationsgeschichten zu lesen.
Ein Leben in der Grazer Triestersiedlung: Martin Behr hat fast zwei Jahrzehnte die Wohnung seiner Mutter dokumentiert. Eine liebevolle Hommage in Buchform.
Hauptfokus der europaweiten Forschung zu „Identity on the line“waren die Gefühle der befragten Personen, die mit Migrationserfahrungen und Identitätsbildung zusammenhängen: Sehnsucht und Zugehörigkeit oder Verbundenheit und Entfremdung sind nur zwei von fünf Gegenpolen, die in der Ausstellung im Grazer Volkskundemuseum aufbereitet wurden.
„Je mehr ich darüber nachdenke, bin ich überall eine Ausländerin – in Slowenien, in Kroatien und heute auch in Serbien“, erzählte eine mehr als 60-jährige Frau, die aus Serbien nach Slowenien migrierte. Für Geschichten wie diese wurden insgesamt 200 Personen aus drei Generationen befragt. Aus dem vielen Material kristallisierten sich die gemeinsamen Gefühle heraus, die die Geschichten miteinander verbinden.
Untersucht wurden Migrationsbewegungen der vergangenen 100 Jahre, die lange im Verborgenen blieben. So können die Besucher beispielsweise das Volk der Sámi kennenlernen, die in Norwegen aufgrund von Gesetzen ab 1919 ihr Leben aufgeben und auswandern mussten. „Habe ich das Recht, um einen Ort zu trauern, der nie mir gehört hat?“, fragt sich zum Beispiel Elin Anna Labba, die Enkelin eines Nordsamen ist.
Die ausgewählten Geschichten auf den Schautafeln werden von Aufnahmen aus Fotoalben oder Abbildungen persönlicher Gegenstände unterstützt. QR-Codes laden zudem ein, im Internet den historischen Kontext nachzulesen. Die Aufbereitung der Schau, die 2022 den Preis der European Museum Academy erhielt, mag anfänglich trocken und textlastig erscheinen. Liest man aber die ersten Geschichten, werden die Menschen in ihnen greifbar. Und man findet sich vielleicht selber in der einen oder anderen Erzählung wieder. Theresa-Marie Stütz „Identity on the line“: Bis 18. Juni im Volkskundemuseum am Paulustor, Paulustorgasse 11, Graz. museum-joanneum.at/ volkskunde, identityontheline.eu
Es scheint eine vertraute Routine in ihrem Leben gewesen zu sein: das Brieflos und die Chance, das ganz große Los zu ziehen. Dabei lebte Erna Behr schon in ihrem ganz eigenen Paradies in der Triesterstraße 84/VII. Insgesamt 57 Jahre lang wohnte sie dort, zunächst mit ihrem Mann Otmar und den beiden Kindern. Nach dem Tod ihres Mannes gestaltete sie die Wohnung sukzessive von der Familienwohnung in die „Mama-Wohnung“um, die alsbald für die längst ausgezogenen Kinder wie auch die Enkelkinder zum behaglichen Zufluchtsort wurde.
Eine Geschichte, die es vielerorts gibt. Aber jene in der Triesterstraße 84, die wird Geschichte: „Meine Mutter war nicht im Internet, sie hat keine Spuren hinterlassen, und mit dem Buch kämpfe ich gegen ihr Verschwinden an“, sagt ihr Sohn Martin Behr, der ab 1999 regelmäßig seine Besuche auch für eine fotografische Bestandsaufnahme genutzt und sie aufwendig in Buchform gegossen hat. Sein Blick galt vor allem den Details, die ganz persönliche Einblicke in die Welt der 2018 verstorbenen Erna Behr gewähren: Kalendereinträge, Brieflose, Stofftiere, Zeitschriften, Brillenbügel, Licht-SchattenDynamiken in den Räumen.
Aber es ist weit mehr als nur das Ausleuchten eines privaten Mikrokosmos. Die Essenz der ursprünglich über 6000 Bilder geben auch Einblicke in eine Außenwelt, deren Veränderungen sich in diesen Miniaturen