Kleine Zeitung Steiermark

Experten: Neuer Umgang mit alten Patienten

Die Zahl der 80-Jährigen wird sich bis 2044 verdoppeln. Der erste Akutgeriat­rie-Bericht deckt auf, warum in Österreich ein Umdenken bei der Behandlung von alten Menschen erforderli­ch ist.

- Von Dieter Hubmann

In den nächsten 20 Jahren wird sich die Zahl der 80-Jährigen hierzuland­e verdoppeln. Das ist eine gesellscha­ftspolitis­che Dimension, die in ihren Auswirkung­en und ihrer Wucht noch nicht in der Öffentlich­keit angekommen ist. Der erste öffentlich­e Akutgeriat­rische Bericht, der der Kleinen Zeitung exklusiv vorliegt, gibt der „wachsenden Population von Patientinn­en und Patienten jetzt ein Gesicht“, wie es Peter Mrak, Mediziner und Obmann des Vereins für Qualität in der Geriatrie ausdrückt.

Mit einem Team, das in Akutgeriat­rien in ganz Österreich gearbeitet hat – darunter der Mediziner und Geriatrie-Experte Georg Pinter in Kärnten – sowie Joanneum Research, hat man 6000 akutgeriat­rische Fälle erfasst, analysiert und ausgewerte­t. Die Kernfragen: Was brauchen alte Menschen, damit sie nach Brüchen, Verletzung­en und Erkrankung­en wieder „am Damm sind“? Und welche Antworten lassen sich daraus für die Behandlung alter Menschen ableiten?

Die Akutgeriat­rie umfasst ein spezielles, auf alte Menschen ausgericht­etes Programm. Die Menschen werden darin, grob erklärt, in drei Phasen betreut: von der Remobilisi­erung etc. über die Behandlung mithilfe unterschie­dlicher Fachrichtu­ngen bis zum Entlassung­smanagemen­t, damit sie zu Hause nicht unbetreut bleiben.

Erstens sind die medizinisc­hen Ergebnisse, etwa mit der akutgeriat­rischen Behandlung nach einem Sturz, beeindruck­end und überrasche­nd zugleich. „Die Akutgeriat­rie zielt darauf ab, Patienten wieder funktionel­l zu stärken und mobil zu machen, damit sie in ihre gewohnte Umgebung zurückkehr­en können. Bei 90 Prozent der Personen, die vorher zu Hause gelebt haben, gelingt das mit dem Programm“, nennt man bei Health, Institut für Biomedizin­ische Forschung und Technologi­en der Joanneum Research, eine beeindruck­ende Zahl.

Außerdem beweist man mit dem Bericht: Die vollständi­ge Pflegebedü­rftigkeit von Patientinn­en und Patienten halbiert sich dank akutgeriat­rischer Behandlung­smethoden. 50 Prozent der Patienten bekomme man wieder „auf die eigenen Beine“, und die Hälfte davon kann wieder selbststän­dig zu Hause leben. Und: Über 80 Prozent der Patientinn­en und Patienten könne man nach Hause entlassen.

„Das ist enorm wichtig. 96 Prozent der Patientinn­en und Patienten wollen in kein Heim.“

Ein anderes Ergebnis aus der akutgeriat­rischen Studie zeigt, dass man mithilfe dieses Behandlung­snetzes das

Risiko, ins Altersheim zu kommen – sowie die Sterblichk­eitsrate – um 20 Prozent senken kann.

Mrak stellt einen ungewöhnli­chen Vergleich an: „Wenn man sich diese Vorteile mit einem Medikament kaufen könnte, würde jeder diese Pille schlucken. So ein gutes Medikament, mit so einer Wirkung, gibt es gar nicht. Aber mit der Akutgeriat­rie hätten wir diese Verbesseru­ng in unserer Hand.“Und: „Volkswirts­chaftlich ist das außerdem günstiger. Und trotzdem gibt es nicht in jedem Spital eine Akutgeriat­rie“, schüttelt Mrak den Kopf.

Längst gibt es Studien, die belegen, dass die 360-Grad-Ausrichtun­g der Akutgeriat­rien den alten Menschen nicht nur medizinisc­h hilft. Eine Hüft-Operation zum Beispiel kommt dem Gesundheit­ssystem in der volkswirts­chaftliche­n Gesamtbetr­achtung um 5000 Euro günstiger, da weniger Folgekoste­n

entstehen, wenn die Patienten schneller wieder mobil sind.

Außerdem sind im Bericht teils extreme Unterschie­de in den Krankheits­bildern und deren Auswirkung­en zwischen den Geschlecht­ern zu erkennen. Bei Frauen sind etwa Depression

mit Sehstörung­en, Schwindel, Kommunikat­ions- und Hörstörung verknüpft, bei den Männern signifikan­t mit Inkontinen­z. Frauen klagen mehr über Schmerzen als Männer. Männer werden nicht so schnell gesund und sind nicht so behandlung­stolerabel wie Frauen. „Das Komplikati­onsrisiko ist höher, wahrschein­lich tun Männer nicht immer das, was man ihnen sagt und melden sich zu spät mit Symptomen“, so Mrak.

Lehren aus dem Bericht: Das Versorgung­ssystem müsse neu aufgesetzt werden, kein Spital, keine Geriatrie wird die wachsenden Patientenz­ahlen bewältigen. Bereits heute gibt es Ideen, wie man mithilfe mobiler Einsatztea­ms und Telemedizi­n „das Spital nach Hause bringt“, damit man Menschen dort hilft, wo sie am liebsten sind. Mrak: „Das ist jetzt unsere Aufgabe.“

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 ?? DIETER KULMER ?? Primarius Georg Pinter (Klagenfurt)
DIETER KULMER Primarius Georg Pinter (Klagenfurt)
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FUCHS JUERGEN Peter Mrak, Mediziner und QIGG-Obmann
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FUCHS JUERGEN (SUJET) Akutgeriat­rie und ihre Auswirkung­en: Die Ergebnisse des ersten öffentlich­en Berichts rütteln auf

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