„Wir dürfen nicht mehr wegschauen“
Nicola Werdenigg deckte 2017 Missstände im Skisport aus. Nun kommt der Film „Persona Non Grata“ins Kino.
Frau Werdenigg, was dachten Sie, als Antonin Svoboda Sie fragte, ob er einen Film über Sie machen darf?
NICOLA WERDENIGG: So war es nicht. Er hat mich einmal angerufen, um mich zu fragen, wie es mir geht. Dann sind wir ins Plaudern gekommen. So ist die Filmidee entstanden.
2017 deckten Sie schwere Missstände im österreichischen Skizirkus auf. Das hat eine Lawine ausgelöst und vieles verbessert. Wie geht es Ihnen damit, dass Ihre Geschichte nun erneut in „Persona Non Grata“aufgekocht wird?
Mir ist wichtig, dass das Thema wieder in Schwung kommt. Seitdem das Filmprojekt publik wurde, melden sich wieder viele Menschen bei mir, die ihre Geschichte erzählen wollen. Das Schöne ist, dass im Sport und in der Kultur mit vera* eine Vertrauensstelle zur Verfügung steht, die Betroffenen zur Seite steht. Das war mein Motiv für diesen Film.
Was hat sich seitdem verändert und verbessert?
Ab dem Moment, wo in Vereinen und Organisationen offen über das Thema geredet wird, passiert weniger; laut Zahlen um rund 60 Prozent. Wir sind mit vera* ausgebucht. Solche Fälle wie einst kann sich heute kein Verein und keine Organisation mehr leisten. Diese durch das Parlament beschlossene Vertrauensstelle ist europaweit führend, die politische Verankerung war wichtig. Es hat sich gesellschaftlich vieles getan. 2017 war so viel Unverständnis und Verblüffung da. Heute sind wir noch längst nicht dort, wo wir sein sollten, aber die breite Öffentlichkeit kann besser damit umgehen.
Ihnen ging es stets um das System. Sie hatten den Mut, Ihre Geschichte zu erzählen und haben sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Danach wurden Sie als Nestbeschmutzerin beschimpft, Ihnen wurde vorgeworfen, Sie bräuchten einen Job. War das wie eine neue Demütigung? Das war keine Demütigung. Im Gegenteil: Kurz danach bin ich in Pension gegangen und hatte mehr Zeit, mich dafür zu engagieren. Ich sehe das nicht vergrämt. Es hat nichts mit mir zu tun. Leute, die ihr Leben auf einer Skikarriere aufgebaut haben, müssen sich mit allen Mitteln, die ihnen die Psyche zur Verfügung stellt, schützen.
Sie hatten die Ihnen angetane sexualisierte Gewalt schon vor der Veröffentlichung verarbeitet. Hat das erst alles möglich gemacht?
Es wäre undenkbar gewesen mit einer Spur von Hass und diesem Gefühl von Schuld, die man sich als Vergewaltigungsbetroffene gibt.
Viele fragten sich: Warum kam all das erst so spät?
Ich habe auf meinem Blog einen Beitrag zur Frage: „Warum erst jetzt?“Es gibt bestimmte Mechanismen: Zuerst kann man es
nicht fassen, nicht benennen. In meinem Fall ist das leicht zu beantworten: Es war ein unfassbarer Fall eines Volleyball-Trainers, der 54 minderjährige Mädchen unter 14 Jahren missbraucht hat. Da war mir klar: Jetzt muss etwas passieren. Das darf nicht sein! Ich bin jetzt Oma. Wir dürfen als Gesellschaft nicht mehr wegschauen.
Aus Ihrer Sicht als Betroffene und Expertin: Was bräuchte es, um den Kreislauf von sexualisierter Gewalt zu durchbrechen?
Wir haben ein Problem mit der Sprache, weil viele Begriffe nicht passen. Missbrauch ist generell ein problematisches Wort. Das würde den Gebrauch von sexualisierter Gewalt voraussetzen. Wir müssen dahingehend sensibler werden. Sexualisierte Gewalt ist kein Sexskandal, sondern Gewalt.
Was bräuchte es rechtlich?
Das ist ein schwieriges Kapitel und ich bin keine Juristin. Wir haben – Gott sei Dank – ein Strafrecht, das im Zweifelsfall für den Angeklagten ausgeht. Das ist aber schwierig für Betroffene, die sich als Opfer betrachten. Wir sehen, wie wenige Fälle zur Anzeige kommen und wie wenige zu einem Urteil führen. Mir fehlt der Fokus auf Täterarbeit. Wer sind die Täter? Die kommen mitten aus der Gesellschaft; da müssen wir hinschauen.
Was hat Ihnen Kraft gegeben, durchzuhalten?
Am meisten haben mir meine drei großartigen Kinder und mein Freundeskreis dabei geholfen sowie meine Erfahrung in der Kommunikationsberatung. Ich hatte davor schon viele andere Leute beraten, wie man mit Shitstorms umgeht.
Auf Ihre Veröffentlichung folgten Gegenangriffe des Österreichischen Skiverbands und des damaligen Präsidenten Peter Schröcksnadel. Hat Sie das überrascht?
Nein. Ich kenne Peter Schröcksnadel und seinen Charakter schon lange, konnte seine Perspektive verstehen. Er hat auch wilde Geschichten in der Kindheit erlebt. Im Endeffekt hat seine Reaktion und die Androhung der Klage das Thema noch befeuert. Das war etwas Positives.