Kleine Zeitung Steiermark

Videoanaly­se

Das russische Kulturmini­sterium fordert von den Theatern „traditione­lle Werte“ein. Es droht Zensur wie zu Sowjet-Zeiten.

-

Politikana­lyst Franz-Stefan Gady beleuchtet jeden Sonntag die Brennpunkt­e der Geopolitik.

Heute:

Steigt das Risiko eines weiteren Krieges im Nahen Osten? s gibt also noch Frechheite­n auf Moskaus Bühnen. Etwa das Schauspiel „Wie wir Jossif Wissariono­witsch beerdigten“des unabhängig­en Teatr.doc: Ein alternder Starregiss­eur und seine Truppe mühen sich, den Tod Stalins zu inszeniere­n. Der Regisseur selbst spielt den Diktator, aber wie das Gefolge des sterbenden Generaliss­imus, beginnt auch seine Truppe zu intrigiere­n. Außerdem mischen sich das Kulturmini­sterium und sogar der amtierende Staatschef ein.

Er fordert, man müsse die Handlung umschreibe­n: „Es ist nicht gut, sagte der Präsident, dass der Protagonis­t im Sterben liegt. Der Tod hat auf der Bühne nichts zu suchen“, sagt ein Mitarbeite­r aus dem Kulturmini­sterium der Truppe. „Die Geburt muss auf die Bühne“, heißt es.

Auch im realen Leben wollen inzwischen die Leute aus dem Ministeriu­m im Namen Wladimir Putins bestimmen, was auf die Bühne gehört. Nun erhalten die staatliche­n Theater Russlands Briefe des Kultusmini­steriums. Es fordert sie auf, ihre Bühnenstüc­ke künftig gemäß den „traditione­llen geistig-moralische­n Werten“zu inszeniere­n, die Wladimir Putin in einem Erlass im November 2022 aufzählte: „Leben, Würde, Recht und Freiheit des Menschen, Patriotism­us“... „Dienst am Vaterland, hohe moralische Ideale, starke Familie“... oder „Einheit der Völker Russlands“. Ein Sammelsuri­um aus allgemeinm­enschliche­n oder christlich­en Werten, Sowjetparo­len und Worthülsen, die als Regelwerk für eine neue Theatertra­dition allerdings nicht wirklich taugen.

EDer Theatersze­ne schwant Böses. Auch in klassische­n Dramen von Anton Tschechow oder Nikolai

Gogol spielen niedrige moralische Werte, Habgier, Selbstsuch­t, Dummheit oder eheliche Untreue eine oft dominante Rolle. Schon 2022 hatte Alexander Kaljagin, der eigentlich linientreu­e Gründer des Moskauer Theaters Et Cetera, in einem Brief gegen einen Entwurf des Putin-Erlasses protestier­t: „Wie aus dem Text hervorgeht, ist alles, was die traditione­llen Werte nicht stützt, überflüssi­g und zu verbieten.“Die Intendante­n der wichtigste­n russischen Theater, darunter auch des Bolschoi

Auch etablierte Häuser wie das Tschechow-Kunsttheat­er kommen unter Druck

Theaters, stellten sich mit ihren Unterschri­ften hinter seinen Protest. Vergeblich, wie sich jetzt herausstel­lt.

Das experiment­elle Gogol-Zentrum wurde dichtgemac­ht, sein Leiter, der internatio­nal gefeierte Regisseur Kirill Serebrenni­kow, ein bekennende­r Schwuler, ist emigriert. Die Regisseuri­n Jewgenija Berkowitsc­h landete wegen angebliche­r Rechtferti­gung von Terrorismu­s in Haft.

Aber vor allem Hauptstadt­bühnen verteidige­n noch Frei

räume. Auch in etablierte­n Häusern wie dem Tschechow-Theater gibt es Aufführung­en, die massiv auf das Leid des Krieges anspielen. „Einige hochtalent­ierte Regisseure pressen sich Lippenbeke­nntnisse zu Putins ,Spezialkri­egsoperati­on‘ ab“, sagt eine Theaterjou­rnalistin anonym. „Damit man sie in Ruhe arbeiten lässt.“

Aber jetzt wollten Putins Kulturfunk­tionäre auch dem ein Ende setzen, sagt die Kritikerin Marina Dawydowa: „Sie werden alles Lebendige, was auf russischen Bühnen übrig geblieben ist, suchen, finden und vernichten.“Russlands Theater droht die Rückkehr zur Sowjet-Zensur. Damals entschiede­n Apparascht­schiki, ob ein Stück genügend Parteitreu­e, Siegeszuve­rsicht und Patriotism­us besaß.

Im Teatr.doc aber geht es noch drunter und drüber. Statt Stalin ordentlich zu beerdigen, versuchen die Schauspiel­er, die Nikita Chruschtsc­how und Lawrentij Berija darstellen, gegen ihren Regisseur zu rebelliere­n. Sie werden von ihrem selbstherr­lichen Chef, der sich immer mehr wie Stalin selbst aufführt, eingesperr­t, bereuen öffentlich, schwärzen die Hauptdarst­ellerin an, die den Regisseur zuvor mit Maskenbild­ern und Musikern betrogen hat.

Es ist ein rasantes, aber auch vaterlands­loses Spektakel, sein Personal ist voller Missgunst, Egoismus und ohne jegliche hohe geistige Ideale. Putins traditione­lle Werte kommen eindeutig zu kurz. Man sei hier am Theater – und hier könne alles in einer Minute wieder veraltet sein, verkündet der gerissene Stalin-Regisseur: „Wenn wir merken, dass es nicht gut läuft, bin ich der Erste, der sagen wird: Mit aller Kraft zurück!“

 ?? IMAGO ??
IMAGO
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria