„Ich will kein Europa als Weltpolizisten“
Europa müsse sich selbst verteidigen – auch ohne USA, fordert Neos EU-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter.
In Österreich ist die Unzufriedenheit mit der Regierung groß. Warum profitiert fast nur die FPÖ, aber Neos kaum bis gar nicht?
Ich verstehe die Unzufriedenheit, die FPÖ erfüllt die Sehnsucht vieler Menschen nach vermeintlich einfachen Antworten auf komplizierte Fragen. Deshalb müssen wir mit mehr Emotionen deutlich machen, wofür Neos stehen. Bei Europa gelingt uns das am einfachsten: Wir stehen für ein Europa, das schützt, das Sicherheit bietet und unabhängig ist und in dem sich die Menschen gut aufgehoben fühlen.
Energie, Ukraine und Asyl stehen bei der EU-Wahl bei Neos im Fokus. Sind Wirtschaft und Binnenmarkt kein Thema?
Das stimmt nicht. Energie und die Abhängigkeit von Russland sind aktuell die überragenden Themen, gerade für die Wirtschaft. Wenn die Koalition gemacht hätte, was Neos schon vor mehr als einem Jahr gefordert haben, nämlich PipelineKapazitäten von Norwegen nach Österreich zu errichten, wären wir heute deutlich weniger von Moskau abhängig. Wir müssen zudem mehr im Bereich Forschung machen und die Bürokratie reduzieren. Und natürlich müssen wir den Binnenmarkt stärken: Unsere Unternehmen sind erfolgreich, weil wir Teil des Binnenmarkts sind.
Eine der großen Schwächen des Binnenmarkts ist, dass es deutlich mehr Regulierungen und unterschiedliche Steuersysteme aufweist als etwa die USA. Was wollen Neos hier ändern?
Auch die USA bestehen aus 50 Einzelstaaten, die oft ganz eigene Regeln haben – auch bei Steuern und Regulierungen. In der EU gibt es bei Steuern einen Rahmen, in dem sich die Staaten frei bewegen können. Das funktioniert ganz gut, hier sehe ich keinen großen Änderungsbedarf.
Was stört Sie an der EU?
Wenn irgendetwas nicht funktioniert, sagt die Regierung oft, Brüssel sei schuld. Tatsächlich hat kein anderes Land so vom Beitritt profitiert wie Österreich. Das müssen wir den Menschen immer wieder sagen. Das EU-Parlament ist – im Unterschied zum Nationalrat – ein Arbeitsparlament mit viel mehr Möglichkeiten für die Abgeordneten. Trotzdem braucht das EU-Parlament noch mehr Kompetenzen: Vor allem ein eigenes Initiativrecht wäre wichtig, eine stärkere Mitsprache bei den EUFinanzen, den Ausbau des Trilogs mit der Kommission und dem Rat der Regierungen sowie die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat bei zentralen Fragen. Ein EU-Außenminister würde Europa global mehr Gewicht verleihen als eine deutsche Außenministerin.
EU-Wahlen sind sehr oft Protestwahlen gegen die eigene Regierung:
Verstehen Sie die Zweifel vieler an der demokratischen Legitimation des EU-Parlaments? Das ist nicht in allen Ländern gleich, und oft sind auch nationale Wahlen Protestwahlen. Ich will die Motivlage der Menschen nicht hinterfragen, mir geht es darum, was wir besser machen können. Darüber gilt es zu diskutieren. In den nächsten fünf Jahren werden im EU-Parlament viele folgenreiche Entscheidungen getroffen werden, die uns alle massiv betreffen.
Es heißt oft: Europa soll sich auf die großen Fragen konzentrieren. Aber welche Kompetenzen soll die EU abgeben?
Ich bin ein Anhänger des Konzepts eines Europas der Regio
nen, das müssen wir stärken. Ob sich die EU um einheitliche Regeln für Führerscheine kümmern muss, bezweifle ich. Und ganz wichtig: Auch die Themen Außengrenzschutz und Asylsystem sollten von der EU organisiert werden, anders lassen sich die Probleme nicht lösen. Das würde auch Österreich entlasten.
Eine solche Lösung wäre sinnvoll, weil es die einzige Chance für faire Verfahren und eine faire Verteilung ist.
Ist es sinnvoll, dass das EU-Parlament neben Brüssel auch in Straßburg tagt?
Nein, natürlich nicht.
Der Mann, der das ändern könnte, ist mit Frankreichs Staatspräsident Macron der mächtigste Mann Ihrer Fraktion. Ja, aber in dieser Frage ist er offensichtlich mehr französischer Präsident.
Neos sehen die Neutralität kritisch und fordern eine europäische Armee. Bedeutet das in letzter Konsequenz auch eine Abkoppelung
von der Nato – und damit den USA?
Eine EU-Arme ist ein langfristiger Prozess. Am Anfang stehen gemeinsame Beschaffungen und Informationssysteme.
Gemeinsam mit den USA oder in Abkoppelung von diesen?
Das wird Europa vielleicht gar nicht selbst entscheiden, falls Donald Trump im November zum US-Präsidenten gewählt werden sollte. So oder so: Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass wir uns im Zweifel alleine verteidigen können – und dann hoffentlich auch wieder mit Großbritannien.
Soll Europa auch die Fähigkeiten entwickeln, um weltweit militärisch seine Interessen zu verteidigen?
Ich möchte ein Europa, das sich verteidigen kann, aber keines, das die Rolle eines Weltpolizisten übernimmt.
Was, wenn irgendwo ein Völkermord tobt und sonst niemand helfen will?
Eine solche Rolle würde uns derzeit massiv überfordern. Jetzt geht es um die ersten Schritte hin zur Selbstverteidigung.
Zur Selbstverteidigung gehört auch die strategische Abschreckung. Frankreich ist die einzige Atommacht in der EU: Soll dies in eine europäische Verantwortung übergehen?
Derzeit halten die USA einen atomaren Schutzschild über Europa. Wenn sie das nicht mehr machen, müssen wir uns eine Alternative überlegen. Im Idealfall kommt es zur generellen atomaren Abrüstung, aber so lange wir von Atomwaffen bedroht werden, brauchen wir eine entsprechende Abschreckung. Weder ich noch Österreich sind in der Situation, Frankreich vorzuschreiben, was es mit seinem Atomarsenal machen soll. Ich bin allerdings froh, dass Österreich beim Raketenschutz Skyshield dabei ist. Dass sich die FPÖ dagegen ausspricht, bedeutet nichts anderes, als dass sie Österreich an Putin ausliefern will.
Außengrenzschutz und Asylsystem sollen von der EU organisiert werden. Helmut Brandstätter, Neos EU-Spitzenkandidat