Kleine Zeitung Steiermark

„Wir sind mit der Neutralitä­t sehr schlecht gefahren“

Estlands Regierungs­chefin Kaja Kallas warnt vor einer Politik der Beschwicht­igung gegenüber Putin. Von einer EU-Armee hält die Liberale überhaupt nichts.

- Von Michael Jungwirth und Nina Koren

Die meisten Österreich­er vertreten die Meinung, dass Putin den Krieg ausgelöst hat. Viele sagen allerdings, es sollte endlich Schluss sein. Russland und die Ukraine sollten sich zusammenra­ufen und Frieden schließen. Hat das nicht was für sich?

Das ist genau, was Russland will. Der frühere sowjetisch­e Außenminis­ter Andrej Gromyko hat einmal die Verhandlun­gsstrategi­e des Kreml sehr treffend umschriebe­n. Zuerst stellt man Maximalfor­derungen, fordert etwa Gebiete, die man nie besessen hat. Dann stellt man Ultimaten – wohl wissend, dass es im Westen immer Leute gibt, die nervös werden und dann etwas anbieten. Am Ende steigt der Kreml besser als je zuvor aus. Jeder sehnt sich nach Frieden. Ich kenne niemanden in der Ukraine, der Krieg will. Als Russland die Krim besetzt hat, trugen die Soldaten keine Abzeichen. Moskau hat sich dafür geschämt. Als Putin gesehen hat, dass er damit durchkommt, ist er unverschäm­ter geworden. Bei der Ukraine wurde nichts mehr verheimlic­ht. Wenn man damit einmal durchkommt, geht es immer so weiter. Das gilt nicht nur für Russland. Alle Gewaltherr­scher weltweit haben sich das genau angeschaut.

Wie groß ist die von manchen Experten ins Spiel gebrachte Gefahr wirklich, dass Putin eines Tages auch die baltischen Staaten angreift?

Jedes Land sollte sich Sorgen machen, auch Österreich. Österreich liegt näher bei der Ukraine als Estland. Jeder Diktator beginnt einen Krieg, wenn er sich sicher ist, dass er ihn gewinnt, weil der Gegner zu schwach ist. Alle europäisch­en Länder müssen mehr Geld für die eigene Verteidigu­ng aufbringen, nur so gelingt die Abschrecku­ng.

Sie meinen, Estland, Lettland, Litauen sind eher auf der sicheren Seite?

Russland ist eine Gefahr. Der Unterschie­d ist, dass wir in der Nato sind.

Glauben Sie, dass Donald Trump, sollte er die Präsidente­nwahlen Anfang November in den USA gewinnen, die Beistandsp­flicht der Nato aufweicht?

Es sind die Amerikaner­innen und Amerikaner, die darüber entscheide­n, wer ihr nächster Präsident ist. Wir Europäer müssen so oder so mehr in unsere eigene Verteidigu­ng stecken. Der Krieg ist ein Weckruf. Viele Länder

machen schon viel, aber wir müssen noch mehr tun.

Macht Österreich genug? Österreich ist neutral, die Neutralitä­t steht in der Verfassung.

Was halten Sie von der Neutralitä­t?

Wir Esten waren in der Zwischenkr­iegszeit (Anmerkung der Redaktion: als unabhängig­er Staat in Europa) neutral und haben gedacht: Wenn wir zwischen den beiden Bösewichte­n (Anmerkung: Hitler und Stalin) neutral bleiben, dann kann uns nichts passieren. Wir haben für 50 Jahre unsere Freiheit, unseren Wohlstand verloren. Wir haben keine guten Erfahrunge­n mit der Neutralitä­t gemacht. Ich kenne die Geschichte der österreich­ischen Neutralitä­t. Ich weiß auch, dass Österreich im Krieg um die Ukraine sehr klar Position bezieht. Ich selbst würde mich im Ernstfall nicht auf die Neutralitä­t verlassen, sondern in die eigene Verteidigu­ng investiere­n.

In Österreich herrscht die Meinung vor, wenn man Russland nicht provoziert, wird alles gut gehen.

Das haben die Ukrainer auch gedacht. Geld in die eigene Verteidigu­ng zu stecken, ist keine Provokatio­n. Was den Aggressor provoziert, ist Schwäche. Nett zu sein, das hilft nicht. Ich erinnere an ein Zitat von Winston Churchill: „Einen Diktator zu beschwicht­igen, ist so, als ob man ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, als Letzter gefressen zu werden.“

Was halten Sie von der Idee einer EU-Armee, auf die ihre österreich­ischen Parteifreu­nde, die Neos, so setzen?

Die Nato ist ein Verteidigu­ngsbündnis. Damit ein solches funktionie­rt, braucht man eine

Kommando- und Kommunikat­ionsstrukt­ur. Wir leben in gefährlich­en Zeiten. Wir haben nicht die Zeit, um eine alternativ­e Struktur aufzubauen.

Wie sehen Sie Russlands Zukunft, nach Putin?

Mir fehlt die Zeit, um mich damit zu befassen. Wir müssen alles tun, um den Konflikt zu beenden. Wir müssen die russische Gewaltspir­ale endlich stoppen. Die Nazis mussten sich in Nürnberg verantwort­en, die Russen mussten sich nie für ihre Verbrechen verantwort­en.

Sie meinen, Putin sollte sich eines Tages vor dem Kriegsverb­rechertrib­unal

in Den Haag verantwort­en müssen?

So ist es.

Dass Russland eines Tages demokratis­ch wird, ist das vorstellba­r oder eine Illusion?

Der bekannte Historiker Timothy Snyder hat einmal gesagt: Damit sich eine Großmacht zum Besseren entwickelt, muss sie ihren letzten Kolonialkr­ieg verloren haben. Das war bei Frankreich, Großbritan­nien und auch Deutschlan­d so. Wenn man die Russen fragt, warum sie den Krieg unterstütz­en, sagen sie: Es geht um Ruhm. Solange das so ist, wird es immer Diktatoren geben.

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CHRISTOPH KLEINSASSE­R (2) „Ich kenne niemanden in der Ukraine, der den Krieg will“, sagt Kallas
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KLEINSASSE­R Kallas im Interview mit Nina Koren und Michael Jungwirth

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