„Wir sind mit der Neutralität sehr schlecht gefahren“
Estlands Regierungschefin Kaja Kallas warnt vor einer Politik der Beschwichtigung gegenüber Putin. Von einer EU-Armee hält die Liberale überhaupt nichts.
Die meisten Österreicher vertreten die Meinung, dass Putin den Krieg ausgelöst hat. Viele sagen allerdings, es sollte endlich Schluss sein. Russland und die Ukraine sollten sich zusammenraufen und Frieden schließen. Hat das nicht was für sich?
Das ist genau, was Russland will. Der frühere sowjetische Außenminister Andrej Gromyko hat einmal die Verhandlungsstrategie des Kreml sehr treffend umschrieben. Zuerst stellt man Maximalforderungen, fordert etwa Gebiete, die man nie besessen hat. Dann stellt man Ultimaten – wohl wissend, dass es im Westen immer Leute gibt, die nervös werden und dann etwas anbieten. Am Ende steigt der Kreml besser als je zuvor aus. Jeder sehnt sich nach Frieden. Ich kenne niemanden in der Ukraine, der Krieg will. Als Russland die Krim besetzt hat, trugen die Soldaten keine Abzeichen. Moskau hat sich dafür geschämt. Als Putin gesehen hat, dass er damit durchkommt, ist er unverschämter geworden. Bei der Ukraine wurde nichts mehr verheimlicht. Wenn man damit einmal durchkommt, geht es immer so weiter. Das gilt nicht nur für Russland. Alle Gewaltherrscher weltweit haben sich das genau angeschaut.
Wie groß ist die von manchen Experten ins Spiel gebrachte Gefahr wirklich, dass Putin eines Tages auch die baltischen Staaten angreift?
Jedes Land sollte sich Sorgen machen, auch Österreich. Österreich liegt näher bei der Ukraine als Estland. Jeder Diktator beginnt einen Krieg, wenn er sich sicher ist, dass er ihn gewinnt, weil der Gegner zu schwach ist. Alle europäischen Länder müssen mehr Geld für die eigene Verteidigung aufbringen, nur so gelingt die Abschreckung.
Sie meinen, Estland, Lettland, Litauen sind eher auf der sicheren Seite?
Russland ist eine Gefahr. Der Unterschied ist, dass wir in der Nato sind.
Glauben Sie, dass Donald Trump, sollte er die Präsidentenwahlen Anfang November in den USA gewinnen, die Beistandspflicht der Nato aufweicht?
Es sind die Amerikanerinnen und Amerikaner, die darüber entscheiden, wer ihr nächster Präsident ist. Wir Europäer müssen so oder so mehr in unsere eigene Verteidigung stecken. Der Krieg ist ein Weckruf. Viele Länder
machen schon viel, aber wir müssen noch mehr tun.
Macht Österreich genug? Österreich ist neutral, die Neutralität steht in der Verfassung.
Was halten Sie von der Neutralität?
Wir Esten waren in der Zwischenkriegszeit (Anmerkung der Redaktion: als unabhängiger Staat in Europa) neutral und haben gedacht: Wenn wir zwischen den beiden Bösewichten (Anmerkung: Hitler und Stalin) neutral bleiben, dann kann uns nichts passieren. Wir haben für 50 Jahre unsere Freiheit, unseren Wohlstand verloren. Wir haben keine guten Erfahrungen mit der Neutralität gemacht. Ich kenne die Geschichte der österreichischen Neutralität. Ich weiß auch, dass Österreich im Krieg um die Ukraine sehr klar Position bezieht. Ich selbst würde mich im Ernstfall nicht auf die Neutralität verlassen, sondern in die eigene Verteidigung investieren.
In Österreich herrscht die Meinung vor, wenn man Russland nicht provoziert, wird alles gut gehen.
Das haben die Ukrainer auch gedacht. Geld in die eigene Verteidigung zu stecken, ist keine Provokation. Was den Aggressor provoziert, ist Schwäche. Nett zu sein, das hilft nicht. Ich erinnere an ein Zitat von Winston Churchill: „Einen Diktator zu beschwichtigen, ist so, als ob man ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, als Letzter gefressen zu werden.“
Was halten Sie von der Idee einer EU-Armee, auf die ihre österreichischen Parteifreunde, die Neos, so setzen?
Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Damit ein solches funktioniert, braucht man eine
Kommando- und Kommunikationsstruktur. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Wir haben nicht die Zeit, um eine alternative Struktur aufzubauen.
Wie sehen Sie Russlands Zukunft, nach Putin?
Mir fehlt die Zeit, um mich damit zu befassen. Wir müssen alles tun, um den Konflikt zu beenden. Wir müssen die russische Gewaltspirale endlich stoppen. Die Nazis mussten sich in Nürnberg verantworten, die Russen mussten sich nie für ihre Verbrechen verantworten.
Sie meinen, Putin sollte sich eines Tages vor dem Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag verantworten müssen?
So ist es.
Dass Russland eines Tages demokratisch wird, ist das vorstellbar oder eine Illusion?
Der bekannte Historiker Timothy Snyder hat einmal gesagt: Damit sich eine Großmacht zum Besseren entwickelt, muss sie ihren letzten Kolonialkrieg verloren haben. Das war bei Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland so. Wenn man die Russen fragt, warum sie den Krieg unterstützen, sagen sie: Es geht um Ruhm. Solange das so ist, wird es immer Diktatoren geben.