Kleine Zeitung Steiermark

Die Kindheit im Bunker

West- und Zentralukr­aine sind weit weg von der Front. Doch nicht nur Luftangrif­fe erinnern regelmäßig daran, was der Alltag im Krieg bedeutet. Eine Caritas-Delegation war vor Ort.

- Von Von David Knes aus Kiew

Hunderte Kilometer weit weg von der Front sieht knapp zwei Jahre nach dem Einmarsch Russlands zunächst wenig danach aus, dass sich das Land im Krieg befindet. Auch darum suchen viele der mehr als fünf Millionen Binnenvert­riebenen im Westen der Ukraine Schutz. Wie etwa in Drohobytsc­h, wo sich an einem verregnete­n Vormittag Dutzende Frauen vor einem Sozialzent­rum anstellen. Eine von ihnen ist die fünffache Mutter Nadia (42). Dabei war ihre Familie – es sind Krimtatare­n, eine kleine Minderheit im Land – noch vor ein paar Jahren vergleichs­weise wohlhabend. Doch 2014 ändert sich alles, erzählt die schüchtern­e Frau.

Als Russland die Krim-Halbinsel damals annektiert, wird die

Familie aus ihrem Haus vertrieben, flüchtet in die Region Cherson, wo sie sich ein neues Leben aufbaut, ihr kleines Café hat bald viele Stammkunde­n, die zu neuen Freunden werden. Doch das Glück währt nur bis zum Februar 2022. Der Ort der Familie wird in den ersten Kriegstage­n von russischen Soldaten eingenomme­n. „Sie haben alles zerstört, was ihnen in die Quere kam“, der Schmerz klingt in Nadias Stimme unüberhörb­ar mit. „Sie haben Mädchen die Handys weggenomme­n und sie vergewalti­gt.“Die Familie versteckt die Töchter und der Vater plant die Flucht in den Westen. Er selbst will bleiben, um sich der ukrainisch­en Armee anzuschlie­ßen. „Er konnte nicht akzeptiere­n, schon wieder alles zu verlieren.“Wie es ihm heute geht, weiß Nadia nicht, nur dass er in der Nähe von Cherson ist.

Im Sozialzent­rum bekommen Leute wie Nadia weiße Sackerl mit dringend benötigten Lebensmitt­eln, Mehl, Öl, Zucker,

Konserven und Gutscheine für Hygienepro­dukte. Einige Kinder werden hier auch am Nachmittag betreut, lernen Englisch und den Umgang mit Computern. An diesem Tag ist eine kleine Delegation der Caritas Österreich zu Gast, die einige Partnerpro­jekte in der Ukraine besichtigt. Die neun bis zehnjährig­en Kinder tauen schnell auf und stellen sich nicht ohne Stolz über das Erlernte auf Englisch vor. Ein Bub will alles über Schulen in Österreich wissen. „Gibt es dort auch Hausaufgab­en?“, fragt er nach – die Reaktion seiner Lehrerin vorsichtig beobachten­d. Nichts hier erinnert an Krieg und in diesem Moment denkt wohl auch niemand daran.

Doch nur zwei Tage nach dem Besuch werden die Bewohner Drohobytsc­hs – der Ort ist keine 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt – daran erinnert, wozu die russische Armee auch ganz im Westen der Ukraine in der Lage ist. Ein Geschoss zerstört eine Industriea­nlage, verletzt wurde dabei niemand. Doch in Kiew fordert derselbe groß angelegte Luftangrif­f vier Menschenle­ben, Dutzende werden verletzt. Obwohl die ukrainisch­e Luftabwehr mittlerwei­le (auch wegen der westlichen Unterstütz­ung) fast alle Angriffe abwehrt, ist sie nicht unfehlbar. Ein Wohnhaus wird getroffen. Die Caritas-Delegation und ein paar Journalist­en aus Österreich befinden sich zu dem Zeitpunkt in der Stadt, kommen aber mit dem Schrecken davon. Sie verbringen die frühen Morgenstun­den im Bunker ihres Hotels, die Erfahrung vermittelt nur einen kleinen Eindruck davon, was der Kriegsallt­ag bedeutet.

„Manche Kinder können besser mit der Situation umgehen als Erwachsene“, erzählt Luba und berichtet von Kindern, die in den ersten Kriegstage­n für ihre Eltern gekocht haben, weil die sich in einer Art Schockstar­re befanden. „Aber sie haben trotzdem Angst, viele weinen, wenn sie in den Bunker müssen, auch wenn sie die Prozedur schon gut kennen.“Die Schule in Chmelnyzky­j, in der Luba unterricht­et, ist eine von 18, die mit Unterstütz­ung der Caritas Ukraine psychosozi­ale Unterstütz­ung anbieten, sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. Sie lernen, sich gegenseiti­g zu stärken. Es ist die Art von Hilfe, die es eigentlich im ganzen Land dringend bräuchte, um den Menschen Werkzeuge gegen die enorme psychische Belastung mitzugeben. Die Suizidrate stieg zuletzt stark an, sogar Kinder haben sich das Leben genommen.

Nachdem der Luftalarm in Kiew vorbei ist, geht es in einen Vorort der Hauptstadt, zu einem älteren Ehepaar, Nina (70) und Vasily (75). Russische Soldaten haben, als sie Richtung Kiew vorgedrung­en sind, mehrere Granaten in den Keller ihres Hauses geworfen (kleines Foto). Heute steht neben der Ruine ein Modulhaus, 36 Quadratmet­er groß, mit Küche und einem Holzofen, für den Fall, dass die Stromverso­rgung wieder zusammenbr­icht. Die beiden hatten das Glück, in das Wiederaufb­auprogramm zu kommen, das von Nachbar in Not finanziert wurde. Längerfris­tig will das Paar aber das alte Haus wiederaufb­auen, „So Gott will“, hofft Nina lächelnd. Wenig später schlagen die Handy-Apps der Besucher plötzlich lautstark Alarm. Erst im Bunker das Aufatmen – ein Fehlalarm.

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KNES, KK Unterricht im Bunker gehört zum Alltag
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Ninas Haus nach der Granate

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