„Nawalny war in Putins Weltbild ein klarer Gegenspieler“
Paul Krisai, Ex-ORF-Korrespondent in Moskau, über das lange Ende von Nawalny und potenzielle „Nachfolger“.
Herr Krisai, wie überraschend kommt der Tod Nawalnys?
PAUL KRISAI. Die Nachricht von Nawalnys Tod, wenn sie sich bestätigt, muss wohl weniger überraschen als der frühe Zeitpunkt. Klar ist aber, dass die Haftbedingungen besonders für Nawalny kaum erträglich waren: Er war seit Monaten ausschließlich in Einzelhaft und hat die fehlende medizinische Versorgung bemängelt. Auch seine Anwälte haben regelmäßig Alarm geschlagen. In den vergangenen Monaten ist er stark abgemagert. Ich denke, es ist ein Trauerspiel in vielen Akten, das sich von langer Hand angekündigt hat.
Tödliche Schikanen also?
Die Strategie der russischen Behörden war ganz offensichtlich, diesen Mann nicht nur psychisch zu brechen. Es ging auch darum, ihn physisch zu zerstören. Mit allen möglichen Aktionen, um ihm in der Haft das Leben schwer zu machen. Sicherlich auch durch die Verlegung in ein so entlegenes Straflager ganz im Norden Russlands, nördlich des Polarkreises, mit einer, wie man weiß, nicht gut beheizten Zelle.
Wie war die öffentliche Wahrnehmung von Nawalny?
In der russischen Bevölkerung war er eine umstrittene Figur. Nawalny war der bekannteste Oppositionelle – das bedeutet aber nicht automatisch, dass er ein bekannter Politiker war: Er ist im Staats-TV nie aufgetreten und wurde von den Staatsmedien ignoriert – Anweisung von oben. Bis 2020 waren die großen Protestaktionen gegen Korruption und Machtmissbrauch im russischen Regime, die er organisiert hat, seine politische Bühne. Aber er war sicher auch nicht gleichzeitig der Liebling von allen, die gegen Putin sind. Es besteht ein großes Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber Oppositionellen, weil diese vom Staat diffamiert, als vom Ausland bezahlt hingestellt werden, ihre Legitimität untergraben wird.
Ihm wurde die Rolle des Intimfeinds Putins zugeschrieben ... Die Feindschaft war schon dadurch erkennbar, dass Putin Nawalnys Namen nie aussprach: Man würde das mit jemandem, der einem völlig egal ist, nicht machen. Nawalny ist offensichtlich auch in Putins Weltbild ein klarer Gegenspieler gewesen. Das war nach jedem Straßenprotest so, dann kamen der Giftanschlag unter mutmaßlicher Beteiligung des Geheimdienstes und die Verhaftung bei seiner freiwilligen Rückkehr. Ob all das von Putin alles direkt angeordnet worden war, lässt sich nicht sagen. Er hat aber in Russland ein Klima geschaffen, in dem solche Angriffe meist straffrei bleiben.
Ist die Botschaft „Seht, was ist, wenn ihr euch entgegenstellt“? Einer der letzten öffentlichen Gegner, der vom Gefängnis aus das Regime noch kritisierte, wurde völlig zum Schweigen gebracht. Wir können davon ausgehen, dass früher oder später zumindest pro forma behördliche Ermittlungen laufen werden. Es wäre nicht der erste Fall eines Kremlgegners, der unter ungeklärten Umständen stirbt – man denke an Boris Nemzow, der 2015 erschossen wurde. Unmenschliche Haftbedingungen haben System – wenn Nawalnys Tod vielleicht auch nicht gezielt herbeigeführt wurde, so wurde er zumindest in Kauf genommen.
War Nawalnys Rückkehr sein – letztlich – tödlicher Fehler?
Das hat 2021, als er sich zur Rückkehr nach Russland entschieden hat, bei vielen für Stirnrunzeln gesorgt, selbst bei seinen Anhängern. Nawalny hat selbst immer gesagt, für ihn habe sich diese Frage gar nicht gestellt. Es dürfte ihm auch klar gewesen sein, dass er wesentlich weniger Glaubwürdigkeit für die Menschen in Russland hat, wenn er aus dem sicheren Ausland kommentiert, kritisiert oder agitiert. Dazu kommt eine Prise Selbstaufopferung, er tat den Schritt aus politischer Überzeugung.
Gibt es noch einen Putin-Gegner von der Statur Nawalnys? Wir haben eine Situation, in der alle anderen ernstzunehmenden Oppositionellen sowieso schon im Gefängnis sitzen, etwa ein Ilja Jaschin oder ein Wladimir Kara-Mursa. Was wir sehen, ist ein Kahlschlag der noch verbleibenden, ohnehin dezimierten Opposition.