Kleine Zeitung Steiermark

„Unsere Gegenwart berauscht sich an sich selbst“

Europa wolle Hitlers Verbrechen sühnen, indem es sich selbst auslösche, sagt der französisc­he Philosoph Alain Finkielkra­ut und empfiehlt als Gegenmitte­l zum woken Furor unserer Tage die Weisheit Mitteleuro­pas.

- Von Stefan Winkler, Paris

Herr Finkielkra­ut, überall in Europa gehen die Leute auf die Straße: Für das Klima und gegen rechts, gegen Israel und für eine Landwirtsc­haft, die den Bauern ihre Existenz sichert. Stehen wir am Beginn einer neuen Ära des Protests?

In Frankreich haben Demonstrat­ionen eine lange, große Tradition. Offenbar passen sich die anderen Länder in Europa dem französisc­hen Modell an. Unsere Gesellscha­ften sind immer gereizter. Einerseits ruft die Masseneinw­anderung existenzie­lle Ängste hervor. Das Recht auf historisch­e Kontinuitä­t, von dem Ortega y Gasset sagte, dass es das fundamenta­lste aller Rechte sei, wird von diesem starken demografis­chen Wandel bedroht. Immer mehr Leute wählen deshalb die sogenannte extreme Rechte. Anderersei­ts – man sieht es in Deutschlan­d – gehen die Leute gegen das auf die Straße, was ihnen wie die Wiederkehr des Faschismus erscheint. Diese Radikalisi­erung vergiftet unser öffentlich­es Leben.

Wie wirkt sich das aus?

Sobald man sich für eine Kontrolle der Grenzen ausspricht, wird man als Rassist bezeichnet, gerade so, als sei die Nation selbst eine gefährlich­e Realität, die in einem immer größeren Ganzen verschwind­en muss, damit sich die Schrecken der Vergangenh­eit nicht wiederhole­n.

Ist das vereinte Europa nicht tatsächlic­h die wirkungsvo­llste Antwort auf die Nazigräuel?

Das Europa nach Hitler meint, dass alles Böse von der Separation kommt und definiert sich daher über die Öffnung. Es mag kein substanzie­lles Europa mehr sein, sondern ein prozedural­es, das nur Normen, Werte und Rechte kennt. Aber das ist die falsche Lehre, die man zieht.

Sind die rechten Ränder keine Bedrohung für die Demokratie? Wir leben unter dem Joch eines imaginären Antifaschi­smus. Früher waren es die Kommuniste­n, die sagten: „Es gibt uns und es gibt die Faschisten.“Heute sind es die Fortschrit­tlichen, die alle, die für die Nation als klar erkennbare Größe eintreten, als Faschisten brandmarke­n. Wie sollen die Menschen ihr Vaterland lieben, wenn dieses für sie nicht mehr ist als für die Fremden und ihnen nur das zugesteht, was es niemandem verweigern kann, fragte schon Rousseau. Aber genau das fordern die Progressis­ten.

Was fordern sie?

Sie wollen, dass Europas Nationen sich als Sühne für Hitlers Verbrechen selbst auslöschen. Das ist umso seltsamer, als es in Hitlers Krieg um das glatte Gegenteil ging. Damals haben freie Nationen mit dem Ruf „Es lebe Frankreich!“, „Es lebe Holland!“, „Es lebe Polen!“Widerstand geleistet. Man verliert völlig den Verstand. Das größte Paradox ist aber, dass das büßende Europa das „Nie wieder“nach der Schoah jetzt gegen Israel verkehrt und das Land plötzlich zum Ziel antinazist­ischer Massendemo­nstratione­n in Madrid, London und Berlin wird.

Gibt Israel mit den massiven Bombardeme­nts in Gaza nicht allen Anlass zu Kritik?

Die Israelis haben Millionen Nachrichte­n an die Palästinen­ser geschickt, damit sie die Bombenangr­iffszonen verlassen. Keine andere Armee der Welt hat das je getan. Nicht die Alliierten im Zweiten Weltkrieg, nicht die internatio­nale Koalition, die zur Auslöschun­g des Islamische­n Staates Rakka und Mossul bombardier­te. Die vielen Toten dort waren der Welt egal. Von einem Genozid in Gaza zu sprechen, ist daher skandalös. Die letzten Nazis auf Erden sind – was für ein Zufall – die Juden. Gleichzeit­ig ist die Kritik an der israelisch­en Politik begründet. Wenn in Israel extremisti­sche Minister die Umsiedelun­g der Palästinen­ser erwägen, so ist das besorgnise­rregend. Als man den Minister für das Kulturerbe gefragt hat, ob man eine Atombombe auf Gaza werfen sollte, erwiderte er, das sei eine Option. Solche Leute dürfen nicht in der Regierung sitzen. Das sind nicht die Erben Ben Gurions und Jitzchak Rabins. Das sind die Erben von Rabins Mörder. Das Kapitel Netanjahu gehört daher beendet. Je früher, desto besser!

Hat der 7. Oktober Ihr Leben als französisc­her Jude verändert?

Der Schriftste­ller David Grossman hat einmal gesagt, tragischer­weise habe Israel die jüdische Seele nicht von ihrer größten Wunde heilen können: dem bitteren Gefühl, in der Welt nicht zu Hause zu sein. Der 7. Oktober hat diese Wunde frisch aufgerisse­n. Israel war der Staat, der errichtet wurde, damit nie mehr

ein Pogrom möglich ist. Nun sind Terroriste­n in die Häuser von Israelis eingedrung­en. Wo sind wir wirklich in Sicherheit? Das fragen sich seither alle Juden in der Welt. In London haben 300.000 Leute gegen Israel protestier­t. In Frankreich waren es weniger. Aber es gibt hier eine Partei, die judenfeind­lich ist. Das hat wahltaktis­che Gründe: Es gibt 600.000 Juden im Land und acht Millionen Muslime. Diese Partei, La France insoumise, ist nicht rechtsextr­em. Sie ist linksextre­m. Im Départment SeineSaint-Denis, wo die Muslime in der Mehrheit sind, hat sie bereits bei Wahlen triumphier­t. Man setzt auf den demografis­chen Wandel. Er soll ihr zur Macht verhelfen. Daher sagt sie, die Hamas sei eine Widerstand­sbewegung und Israel begehe Völkermord. Ein Teil der Linken hat hier also ganz klar eine politische Wahl getroffen.

Erfüllt Sie das mit Bitternis?

Es gab einen Moment, da dachte ich, dass Europa unter der Einwirkung der Schoah den Antisemiti­smus besiegt habe. Aber dann habe ich Stück für Stück begriffen, dass er über den Hass auf Israel neu aufgeflamm­t ist – mit einer Heftigkeit, die sich daraus erklärt, dass es ein Antisemiti­smus ist, der kein schlechtes Gewissen bereitet. Denn ist er antirassis­tisch. Er klagt den Rassismus Israels an und über Israel alle Juden in der Welt, die sich Israel verbunden fühlen.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie Heimweh nach Frankreich haben. Wie ist das zu verstehen? Dem Schriftste­ller Edgar Quinet zufolge besteht das wahre Exil nicht darin, seinem Land entrissen zu werden, sondern weiter dort zu leben, ohne wiederzuer­kennen, was es liebenswer­t machte. Vielleicht sind wir zu diesem Exil verdammt, sollten die Dinge ihren Lauf nehmen.

Nämlich?

Den demografis­chen Wandel habe ich bereits erwähnt. Dazu kommt der Prozess der Entkultura­lisierung,

der dazu führt, dass Frankreich keine literarisc­he Heimat mehr ist. Die Franzosen sind nicht mehr in ihrer eigenen Sprache zu Hause. Sie sprechen sie immer schlechter. Das macht mir das Herz schwer.

Verblasst nicht Europas abendländi­sche Signatur insgesamt? Für Milan Kundera war Europäer, wer Heimweh nach Europa hat. Eine seltsame Aussage. Schließlic­h ist die europäisch­e Einigung ziemlich jung. Aber sie gründet auf dem Willen der Europäer, sich von sich selbst freizumach­en. Bevor Europa zum politische­n Gebilde wurde, war es eine Zivilisati­on mit zunächst der Religion als einigende Kraft. Ab Beginn der Neuzeit übernahm die Kultur diese Rolle. Und jetzt weicht die Kultur einem Einheitsbr­ei, wo alles egal ist. Das hat nichts mit der Zuwanderun­g zu tun. Das ist ein endogen europäisch­es Phänomen. Es ist eine Folge dessen, was Alexis de Tocquevill­e die Gleichheit der Bedingunge­n nannte. Die moderne Demokratie ist nicht nur ein politische­s System. Sie ist ein Prozess, der alle Bereiche des Lebens erfasst. In dieser Radikalisi­erung der Gleichheit ist keine Hierarchie mehr selbstvers­tändlich. Nur ohne Hierarchie der Werte gibt es keine Kultur. Dazu kommt das Phänomen der Wokeness, der Wachsamkei­t gegenüber allen Diskrimini­erungen, Ausgrenzun­gen und Stigmatisi­erungen.

Kann es falsch sein, gegen Diskrimini­erung zu sein?

Keine Zivilisati­on hat jemals gleichzeit­ig Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobi­e und Grossophob­ie bekämpft. Unsere Gegenwart berauscht sich an sich selbst. Wenn sie auf die Vergangenh­eit zurückblic­kt, dann nicht, um daraus zu lernen. Sie lädt sie vor, hält über sie Gericht. In New York haben die Nachfahren der Ureinwohne­r Amerikas die Zerstörung einer Figurengru­ppe im Museum of Natural History verlangt, die die erste Begegnung zwischen den holländisc­hen Siedlern und den Indianern darstellt. Man hat die Vitrine daraufhin mit Texten versehen, die auf die Inkorrekth­eiten der Darstellun­g hinweisen. Wir korrigiere­n die Vergangenh­eit. Was für eine Arroganz! Dahinter tritt eine radikale Kritik am Westen zum Vorschein. Die Eliten, die heute auf unseren Universitä­ten ausgebilde­t werden, sind aggressiv antiwestli­ch. Octavio Paz, der große mexikanisc­he Dichter, hat es so formuliert: Wir haben eine wunderbare Tradition der Kritik. Aber wir haben sie in den Dienst des Hasses auf unsere Welt gestellt. Voilà, hier stehen wir heute!

Woher rührt Ihr Bewusstsei­n für die Tragik unserer Zeit?

Ich weiß es nicht. Charles Péguy sagte, man müsse immer sagen, was man sieht: Vor allem müsse man – und das ist viel schwierige­r – sehen, was man sieht. Ich versuche, zu sehen, was ich sehe. Dabei haben mir die Bücher geholfen, aber auch Begegnunge­n, allen voran die mit Kundera. Aus ihm sprach die Weisheit Mitteleuro­pas.

Wir leben unter dem Joch eines imaginären Antifaschi­smus.

Was ist denn die Weisheit Mitteleuro­pas?

Das war Czesław Miłosz. Das war Kazimierz Brandys. Das war Karel Kosík. Das waren all die Denker, die den Schrecken nicht nur eines totalitäre­n Regimes, sondern einer fremden Zivilisati­on erfahren haben und in dem Maße, wie sie unter der Unterdrück­ung litten, immer gewusst haben, was Europa wirklich ausmacht. Wäre ich jung, würde ich in diese Länder fahren, nach Polen, in die Tschechisc­he Republik, aber auch nach Ungarn, das mir Sorge bereitet. Denn diese Weisheit ist unersetzba­r. Und ich möchte gern wissen, was von ihr geblieben ist.

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STEFAN WINKLER Alain Finkielkra­ut in seiner Wohnung in Paris
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