„Unsere Gegenwart berauscht sich an sich selbst“
Europa wolle Hitlers Verbrechen sühnen, indem es sich selbst auslösche, sagt der französische Philosoph Alain Finkielkraut und empfiehlt als Gegenmittel zum woken Furor unserer Tage die Weisheit Mitteleuropas.
Herr Finkielkraut, überall in Europa gehen die Leute auf die Straße: Für das Klima und gegen rechts, gegen Israel und für eine Landwirtschaft, die den Bauern ihre Existenz sichert. Stehen wir am Beginn einer neuen Ära des Protests?
In Frankreich haben Demonstrationen eine lange, große Tradition. Offenbar passen sich die anderen Länder in Europa dem französischen Modell an. Unsere Gesellschaften sind immer gereizter. Einerseits ruft die Masseneinwanderung existenzielle Ängste hervor. Das Recht auf historische Kontinuität, von dem Ortega y Gasset sagte, dass es das fundamentalste aller Rechte sei, wird von diesem starken demografischen Wandel bedroht. Immer mehr Leute wählen deshalb die sogenannte extreme Rechte. Andererseits – man sieht es in Deutschland – gehen die Leute gegen das auf die Straße, was ihnen wie die Wiederkehr des Faschismus erscheint. Diese Radikalisierung vergiftet unser öffentliches Leben.
Wie wirkt sich das aus?
Sobald man sich für eine Kontrolle der Grenzen ausspricht, wird man als Rassist bezeichnet, gerade so, als sei die Nation selbst eine gefährliche Realität, die in einem immer größeren Ganzen verschwinden muss, damit sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen.
Ist das vereinte Europa nicht tatsächlich die wirkungsvollste Antwort auf die Nazigräuel?
Das Europa nach Hitler meint, dass alles Böse von der Separation kommt und definiert sich daher über die Öffnung. Es mag kein substanzielles Europa mehr sein, sondern ein prozedurales, das nur Normen, Werte und Rechte kennt. Aber das ist die falsche Lehre, die man zieht.
Sind die rechten Ränder keine Bedrohung für die Demokratie? Wir leben unter dem Joch eines imaginären Antifaschismus. Früher waren es die Kommunisten, die sagten: „Es gibt uns und es gibt die Faschisten.“Heute sind es die Fortschrittlichen, die alle, die für die Nation als klar erkennbare Größe eintreten, als Faschisten brandmarken. Wie sollen die Menschen ihr Vaterland lieben, wenn dieses für sie nicht mehr ist als für die Fremden und ihnen nur das zugesteht, was es niemandem verweigern kann, fragte schon Rousseau. Aber genau das fordern die Progressisten.
Was fordern sie?
Sie wollen, dass Europas Nationen sich als Sühne für Hitlers Verbrechen selbst auslöschen. Das ist umso seltsamer, als es in Hitlers Krieg um das glatte Gegenteil ging. Damals haben freie Nationen mit dem Ruf „Es lebe Frankreich!“, „Es lebe Holland!“, „Es lebe Polen!“Widerstand geleistet. Man verliert völlig den Verstand. Das größte Paradox ist aber, dass das büßende Europa das „Nie wieder“nach der Schoah jetzt gegen Israel verkehrt und das Land plötzlich zum Ziel antinazistischer Massendemonstrationen in Madrid, London und Berlin wird.
Gibt Israel mit den massiven Bombardements in Gaza nicht allen Anlass zu Kritik?
Die Israelis haben Millionen Nachrichten an die Palästinenser geschickt, damit sie die Bombenangriffszonen verlassen. Keine andere Armee der Welt hat das je getan. Nicht die Alliierten im Zweiten Weltkrieg, nicht die internationale Koalition, die zur Auslöschung des Islamischen Staates Rakka und Mossul bombardierte. Die vielen Toten dort waren der Welt egal. Von einem Genozid in Gaza zu sprechen, ist daher skandalös. Die letzten Nazis auf Erden sind – was für ein Zufall – die Juden. Gleichzeitig ist die Kritik an der israelischen Politik begründet. Wenn in Israel extremistische Minister die Umsiedelung der Palästinenser erwägen, so ist das besorgniserregend. Als man den Minister für das Kulturerbe gefragt hat, ob man eine Atombombe auf Gaza werfen sollte, erwiderte er, das sei eine Option. Solche Leute dürfen nicht in der Regierung sitzen. Das sind nicht die Erben Ben Gurions und Jitzchak Rabins. Das sind die Erben von Rabins Mörder. Das Kapitel Netanjahu gehört daher beendet. Je früher, desto besser!
Hat der 7. Oktober Ihr Leben als französischer Jude verändert?
Der Schriftsteller David Grossman hat einmal gesagt, tragischerweise habe Israel die jüdische Seele nicht von ihrer größten Wunde heilen können: dem bitteren Gefühl, in der Welt nicht zu Hause zu sein. Der 7. Oktober hat diese Wunde frisch aufgerissen. Israel war der Staat, der errichtet wurde, damit nie mehr
ein Pogrom möglich ist. Nun sind Terroristen in die Häuser von Israelis eingedrungen. Wo sind wir wirklich in Sicherheit? Das fragen sich seither alle Juden in der Welt. In London haben 300.000 Leute gegen Israel protestiert. In Frankreich waren es weniger. Aber es gibt hier eine Partei, die judenfeindlich ist. Das hat wahltaktische Gründe: Es gibt 600.000 Juden im Land und acht Millionen Muslime. Diese Partei, La France insoumise, ist nicht rechtsextrem. Sie ist linksextrem. Im Départment SeineSaint-Denis, wo die Muslime in der Mehrheit sind, hat sie bereits bei Wahlen triumphiert. Man setzt auf den demografischen Wandel. Er soll ihr zur Macht verhelfen. Daher sagt sie, die Hamas sei eine Widerstandsbewegung und Israel begehe Völkermord. Ein Teil der Linken hat hier also ganz klar eine politische Wahl getroffen.
Erfüllt Sie das mit Bitternis?
Es gab einen Moment, da dachte ich, dass Europa unter der Einwirkung der Schoah den Antisemitismus besiegt habe. Aber dann habe ich Stück für Stück begriffen, dass er über den Hass auf Israel neu aufgeflammt ist – mit einer Heftigkeit, die sich daraus erklärt, dass es ein Antisemitismus ist, der kein schlechtes Gewissen bereitet. Denn ist er antirassistisch. Er klagt den Rassismus Israels an und über Israel alle Juden in der Welt, die sich Israel verbunden fühlen.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie Heimweh nach Frankreich haben. Wie ist das zu verstehen? Dem Schriftsteller Edgar Quinet zufolge besteht das wahre Exil nicht darin, seinem Land entrissen zu werden, sondern weiter dort zu leben, ohne wiederzuerkennen, was es liebenswert machte. Vielleicht sind wir zu diesem Exil verdammt, sollten die Dinge ihren Lauf nehmen.
Nämlich?
Den demografischen Wandel habe ich bereits erwähnt. Dazu kommt der Prozess der Entkulturalisierung,
der dazu führt, dass Frankreich keine literarische Heimat mehr ist. Die Franzosen sind nicht mehr in ihrer eigenen Sprache zu Hause. Sie sprechen sie immer schlechter. Das macht mir das Herz schwer.
Verblasst nicht Europas abendländische Signatur insgesamt? Für Milan Kundera war Europäer, wer Heimweh nach Europa hat. Eine seltsame Aussage. Schließlich ist die europäische Einigung ziemlich jung. Aber sie gründet auf dem Willen der Europäer, sich von sich selbst freizumachen. Bevor Europa zum politischen Gebilde wurde, war es eine Zivilisation mit zunächst der Religion als einigende Kraft. Ab Beginn der Neuzeit übernahm die Kultur diese Rolle. Und jetzt weicht die Kultur einem Einheitsbrei, wo alles egal ist. Das hat nichts mit der Zuwanderung zu tun. Das ist ein endogen europäisches Phänomen. Es ist eine Folge dessen, was Alexis de Tocqueville die Gleichheit der Bedingungen nannte. Die moderne Demokratie ist nicht nur ein politisches System. Sie ist ein Prozess, der alle Bereiche des Lebens erfasst. In dieser Radikalisierung der Gleichheit ist keine Hierarchie mehr selbstverständlich. Nur ohne Hierarchie der Werte gibt es keine Kultur. Dazu kommt das Phänomen der Wokeness, der Wachsamkeit gegenüber allen Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen.
Kann es falsch sein, gegen Diskriminierung zu sein?
Keine Zivilisation hat jemals gleichzeitig Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Grossophobie bekämpft. Unsere Gegenwart berauscht sich an sich selbst. Wenn sie auf die Vergangenheit zurückblickt, dann nicht, um daraus zu lernen. Sie lädt sie vor, hält über sie Gericht. In New York haben die Nachfahren der Ureinwohner Amerikas die Zerstörung einer Figurengruppe im Museum of Natural History verlangt, die die erste Begegnung zwischen den holländischen Siedlern und den Indianern darstellt. Man hat die Vitrine daraufhin mit Texten versehen, die auf die Inkorrektheiten der Darstellung hinweisen. Wir korrigieren die Vergangenheit. Was für eine Arroganz! Dahinter tritt eine radikale Kritik am Westen zum Vorschein. Die Eliten, die heute auf unseren Universitäten ausgebildet werden, sind aggressiv antiwestlich. Octavio Paz, der große mexikanische Dichter, hat es so formuliert: Wir haben eine wunderbare Tradition der Kritik. Aber wir haben sie in den Dienst des Hasses auf unsere Welt gestellt. Voilà, hier stehen wir heute!
Woher rührt Ihr Bewusstsein für die Tragik unserer Zeit?
Ich weiß es nicht. Charles Péguy sagte, man müsse immer sagen, was man sieht: Vor allem müsse man – und das ist viel schwieriger – sehen, was man sieht. Ich versuche, zu sehen, was ich sehe. Dabei haben mir die Bücher geholfen, aber auch Begegnungen, allen voran die mit Kundera. Aus ihm sprach die Weisheit Mitteleuropas.
Wir leben unter dem Joch eines imaginären Antifaschismus.
Was ist denn die Weisheit Mitteleuropas?
Das war Czesław Miłosz. Das war Kazimierz Brandys. Das war Karel Kosík. Das waren all die Denker, die den Schrecken nicht nur eines totalitären Regimes, sondern einer fremden Zivilisation erfahren haben und in dem Maße, wie sie unter der Unterdrückung litten, immer gewusst haben, was Europa wirklich ausmacht. Wäre ich jung, würde ich in diese Länder fahren, nach Polen, in die Tschechische Republik, aber auch nach Ungarn, das mir Sorge bereitet. Denn diese Weisheit ist unersetzbar. Und ich möchte gern wissen, was von ihr geblieben ist.