Der Mann, der Putin Angst machte
Alexej Nawalny war in Russland zum Gegenmodell des alten Staatschefs geworden, zum Traum der Jungen. Er lebte frei, als gäbe es keinen Tod.
Er lacht. „Könnte der ehrenwerte Herr Richter mir bitte einen Teil seines bestimmt stattlichen Gehalts überweisen, mir ist hier aufgrund Ihrer Entscheidungen das Geld ausgegangen.“So humorvoll, unerschrocken, als gäbe es kein Morgen und schon gar keinen Tod, sieht man Alexej Nawalny auf den letzten Bildern, die von ihm erhalten sind. Sogar der Richter lacht mit. Ein Video, aufgenommen bei einer Einvernahme in einem Justizgebäude in Charp, mehr als 2000 Kilometer nordöstlich von Moskau. Ausgemergelt, die Haare kurz geschoren, hinter einem Gitter, aber selbst dort noch ohne Angst zu zeigen, innen völlig frei. Wie genau Nawalny jetzt zu Tode kam, werden wir nie verlässlich erfahren; ob es erneut Gift war, das ihm verabreicht wurde, oder er letztlich an den Spätfolgen des Straflagers und des Nowitschok-Anschlags starb, den er 2020 nur knapp überlebte. Im Gedächtnis der Generation junger Russinnen und Russen, die ihn unterstützt haben, wird sein Lachen bleiben, der Mut, sich der Repression entgegenzustellen.
Am Tag danach verkünden die Gefängnisbehörden seinen Tod am eiskalten russischen Polarkreis, in der gefürchteten Strafkolonie Nr. 3; am Samstag erhielt die Mutter Nawalnys von den Behörden eine Bestätigung.
Der Leichnam selbst galt trotz ihrer Suche als verschwunden. Dass er jemals unabhängig obduziert wird, kann man ausschließen. Nawalnys Frau Julia bewies am Freitag eine Stärke, die an die ihres Mannes heranreicht. Im Moment der größten Verzweiflung betritt sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz das Podium, spricht zur Weltöffentlichkeit und ruft dazu auf, Putins Regime zu beenden und ihn und sein Umfeld zur Verantwortung zu ziehen für all ihre Verbrechen. „Ich habe kurz überlegt, gleich zu meinen beiden Kindern zurückzufahren“, sagte Julia Nawalnaja, „aber dann überlegt, was Alexej getan hätte: Er hätte gesagt, was zu sagen ist“. A lexej Nawalny, 47, Anwalt, Aufdecker, Antikorruptionskämpfer, die bekannteste Figur der russischen Opposition. Er hatte null Chancen, jemals offiziell gegen Wladimir Putin bei einer Wahl antreten zu dürfen. Selbst wenn: Angesichts der Kontrolle, die der Kreml über die Wahlbehörde wie auch die Medien ausübt, wäre er niemals auf Platz eins gekommen. Und dennoch versuchte der Staat, Nawalnys Bewegung und ihn selbst auszuradieren, denn Nawalny konnte Menschenmassen bewegen; sogar vom Gefängnis heraus organisierte er Proteste – trotz der Gefahren. Mehr als 300 Menschen wurden gestern in Russland verhaftet, weil sie an öffentlichen Plätzen seiner gedachten. „Wie groß doch die Angst des Machtapparates vor einem Toten ist, wenn sogar das Ablegen von Blumen zu seinem Andenken als Verbrechen angesehen wird“, schrieb der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow. Denn trotz aller Repression stand Nawalny für etwas, das Putin so sehr fürchtet, dass er es, letztlich auch in der Ukraine, mit aller Gewalt bekämpft: die Idee von Freiheit. Die Idee von Umbruch, Demokratie, Rechtsstaat. Für ein Russland ohne Putin.
Der Kontrast könnte größer nicht sein. Alexej Nawalny: jung, lässig, dynamisch, frech. Er lebte im Plattenbau und überlebte sogar Attacken mit dem Nervengift Nowitschok. Wladimir Putin: 71, seit 23 zunehmend bleiernen Jahren an der Macht. Per internationalem Haftbefehl gesucht wegen Kriegsverbrechen in und an der Ukraine. Putin ist in Dauerschleife in den staatlich dominierten Fernsehsendern zu sehen. Ein brutalster Angriffskrieg gegen die Nachbarn, die Verteufelung des Westens, ein russischer Staat, der alles dem Krieg unterordnet – diese Last wird er hinterlassen. Nawalny dagegen hatte die sozialen Medien erobert – er sprach dort die Sprache der Jungen, die seine Videos verbreiteten. Nawalny gelang, was vor ihm keiner schaffte: In einem Land, wo Putin bis heute keinen einzigen Alternativkandidaten aus seinem Schatten treten ließ, hat Nawalny ihm immer wieder die Heldenrolle abgenommen.
„Der Fall ist gelöst. Ich weiß, wer mich umbringen wollte.“So lautet der Titel eines Videos, das Nawalny veröffentlichte, nachdem er sich von dem Giftanschlag 2020 erholt hatte. „Ich habe meinen Mörder angerufen. Er hat gestanden“, so der Titel des nächsten. Und es stimmte. Nawalny hatte einen KGB-Mann angerufen, sich als Vorgesetzter ausgegeben und den Mann dazu gebracht, zu gestehen, dass das Nervengift vom Geheimdienst in Nawalnys Unterhose angebracht worden war.
Nawalny mag anfangs bloß ein Blogger mit einem Haufen Ehrgeiz gewesen sein. Nach dem Anschlag war er weltbekannt und ein Star der Jungen. 110 Millionen Mal wurde das Video über „Putins Palast“angeklickt – auch wenn der Kremlchef dementiert, mit dem Luxusanwesen zu tun zu haben. A nders als Putin, der seine jungen Jahre in der DDR verbrachte, hat Nawalny als Stipendiat in Yale studiert. Er kannte die Ästhetik moderner Late-Night-Shows und politischer Stand-up-Comedy. Seine Enthüllungsvideos über die Korruption der Regierenden waren spannend und ironisch, oft mit
Filmmotiven garniert. Wenn man Nawalny Gassenhauer trällernd oder mit Freunden scherzend auf investigativer Mission im Auto sah, wirkte die Arbeit als Korruptionsbekämpfer wie ein großer Spaß. Dass es tödlich enden könnte, war vom ersten Tag an klar.
Sein Leben selbst war filmreif. Nawalny wusste auch, dass seine Rückkehr nach Russland, nachdem ihm Ärzte in Berlin nach dem Giftanschlag noch ein paar Jahre Leben hinübergerettet hatten, Haft und Gefängnis bringen würde. Er wusste, dass sein Leben von jetzt an wieder am seidenen Faden hing. Trotzdem kehrte er zurück in seine Heimat, um gegen die Regierenden anzukämpfen, die das Land ausnehmen. Seine Waffen waren seine Worte – und Gesten: Nach dem Richterspruch formte er vor Gericht mit seinen Händen ein Herz – als Liebesbotschaft an seine Frau Julia: „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut ausgehen“, rief er ihr zu. Wer diese Geschichte mitverfolgt hat, wird sie nicht vergessen. Gut ausgegangen ist sie aber nicht.
Größeren Kreisen bekannt wurde Nawalny bei den Protesten 2012: Der Schmähspruch über die Kremlpartei – „Partei der Gauner und Diebe“–, der damals tausendfach durch die Straßen hallte, stammt von Nawalny. Er baute im ganzen Land ein Antikorruptions- und Aktivistennetzwerk auf – und initiierte die „intelligente Stimmabgabe“: Seine Organisation gibt Wahlempfehlungen ab – für jenen Kandidaten, der die besten Chancen hat, den Kremlrepräsentanten zu besiegen. Mit dieser Art Wahlkampf war er im Sommer 2020 in Tomsk beschäftigt – bis er nach dem Giftattentat zusammenbrach. N awalny zu einem „russischen Mandela“zu stilisieren, wie es manche Anhänger tun, ist übertrieben. Seine politischen Positionen sind umstritten, er selbst ambivalent. Früher nahm er nicht nur an den „Russischen Märschen“der Rechten und Ultrarechten teil, sondern fiel mit Sprüchen gegen Einwanderer auf. Nawalny erklärte, er wolle die Nationalisten
in den Kampf gegen das System Putin einbeziehen, was er 2011 allerdings für gescheitert erklärte.
Die letzten Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er hinter Gittern. Er nutzte den letzten Auftritt in Freiheit erneut für bissigen Spott. Als „Wladimir, der Unterhosen-Vergifter“, werde Putin in die Geschichte eingehen. Nawalny, der Putin-Entzauberer. U nd dann noch die Videoansprache, die Nawalny vorbereitet hatte, damit sie nach seinem Tod ausgestrahlt wird und weiter wirkt. „Ihr dürft nicht aufgeben“, erklärt er darin. „Künftige Generationen werden zu ihm aufschauen, nicht zu Putin“, schreibt der russische Journalist Mikhail Zygar, selbst eine Stimme der kritischen Köpfe Russlands, im Exil. In all der Aussichtslosigkeit in Putins Russland hat Alexej Nawalny seinen Leuten den Traum einer besseren Zukunft mitgegeben wie keiner vor ihm. Es wird wohl lange dauern. Eines Tages wird die Saat aufgehen.