„Er wollte nicht glauben, dass man ihn vergiften würde“
Karl Habsburg zählte zum Freundeskreis von Alexej Nawalny. „Er war nicht davon abzuhalten, in seine Heimat Russland zurückzukehren.“
Herr Habsburg, wie gut kannten Sie Alexej Nawalny?
KARL HABSBURG: Ich habe ihn nach seiner Vergiftung erstmals kennengelernt, zuerst in Berlin in der Klinik Charité und dann vor allem während der Rehabilitation in Deutschland. In dieser Zeit haben sich sehr viele um ihn gekümmert – so auch meine Frau und ich. Er wollte vor allem wissen, wie es zu dem Anschlag auf ihn (Anmerkung: im August 2020 in Tomsk) gekommen ist, und dabei haben wir ihm tatkräftig geholfen. Er hat es nicht für möglich gehalten.
Was hat er nicht für möglich gehalten?
Als wir ihn zum ersten Mal damit konfrontiert haben, dass Agenten ihn gezielt mit Nowitschok umbringen wollten, hat er es zunächst nicht geglaubt. Er wusste natürlich um die Vergiftungen von anderen Dissidenten wie Sergej Skripal und Alexander Litwinenko, aber er hat es nicht für möglich gehalten, dass die Regierung so ein Mittel gegen ihn einsetzt. Er wusste, dass er einer Gefahr ausgesetzt ist. Wir haben uns sofort sehr gut verstanden.
Über diese spektakuläre Recherche während der Reha in einer Klinik im Schwarzwald ist ein oscarprämierter Film entstanden, der in der gespenstischen Szene gipfelt, dass Nawalny seine Mörder selbst zu Hause anruft. Einer der Attentäter gibt in einem denkwürdigen Telefonat erschreckende Details preis, wie man Nawalny umbringen wollte – etwa, dass Nawalnys Unterhose mit dem Kampfstoff vergiftet wurde. Sie waren an dem Film entscheidend beteiligt?
Ich war der Geburtshelfer des Films, meine jüngste Tochter Gloria ist die Co-Produzentin. Ich habe damals mit einem Filmteam an einem anderen Projekt gearbeitet. Als sich die Hintergründe der Vergiftung langsam abgezeichnet haben, habe ich das Filmteam sofort gefragt, ob sie das nicht dokumentieren wollen. Dazu bedurfte es keiner langen Überredungskünste.
Wie haben Sie Nawalny erlebt?
Er scheint ja ein völlig unerschrockener, unbeugsamer Mensch gewesen zu sein.
Er war ein unglaublich positiver Mensch, der immer an den guten Ausgang geglaubt hat. Er war auch ein sehr charismatischer Mensch, der immer auf Leute zugegangen ist. Ich war nicht immer seiner Meinung, er war an Diskussionen sehr interessiert.
Es gibt Dissidenten, die, sobald sie an die Macht kommen, nichts mehr von der Demokratie, den Grundrechten und dem Rechtsstaat wissen wollen. Wollte Nawalny wirklich ein demokratisches Russland?
Wir dürfen uns Nawalny nicht wie einen klassischen Politiker vorstellen. Er war in erster Linie ein Aktivist, nicht Politiker. Sein Hauptthema war die politische Korruption in Russland, seine Bewegung war eine Antikorruptionsbewegung. Damit war er unweigerlich einer der Haupt
gegner, wenn nicht sogar der Hauptgegner Putins. Er ist vor allem für Anstand in der Politik eingestanden, natürlich in Kombination mit den westlichen Wertvorstellungen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Marktwirtschaft. Für Putin war Nawalny ein Schreckgespenst.
Sie waren bei den Diskussionen in Deutschland dabei, als es um die Frage gegangen ist, ob er nach
Russland zurückkehren soll? Hat er nicht geahnt, dass er hinter Gitter landen würde?
Seit dem ersten Gespräch, das ich mit ihm hatte, hat er betont, dass er zurückgehen werde, sobald er gesundheitlich fit ist. Viele haben ihm zugeredet, es nicht zu machen. Er ist schon davon ausgegangen, dass er nach der Rückkehr bald eingesperrt wird, aber er dachte: Irgendeinmal komme ich raus und wir gehen in eine bessere Zukunft. Er war nicht davon abzuhalten.
Wissen Sie etwas über die Umstände des Todes?
Nein. Wo mir aber die Galle hochkommt, ist die Stellungnahme der Gefängnisbehörde, wonach er „nach einem Spaziergang“zusammengebrochen ist. Ich weiß von Nawalny und seinem Anwalt, wie so ein Spaziergang im Gulag ausgesehen hat. Er war in Dauerisolationshaft. Zwar sehen die Bestimmungen vor, dass man maximal 14 Tage in Isolationshaft festgehalten werden kann. Zehn Minuten vor Ablauf der Frist wurde er aus der Zelle rausgeholt und zehn Minuten nach Mitternacht wieder hineingesteckt. Er durfte einmal am Tag etwa für eine halbe Stunde raus, allerdings in einen zwei mal zwei Meter großen Innenhof. So sieht ein Spaziergang im
Gulag aus.
In wenigen Wochen finden in Russland Wahlen statt. Ist der Zeitpunkt des Todes aus Sicht des russischen Präsidenten nicht ein ungünstiger?
Das ist keine Wahl, sondern eine Absegnung von Putins weiterer Tyrannei. Putin setzt alles dran, um möglichst glorifiziert auszusteigen. Wir wussten, dass die nächsten Wochen für Nawalny eine gefährliche Zeit darstellen.
Müssen andere Dissidenten um ihr Leben fürchten, etwa KaraMursa?
Absolut.
Wie groß war Nawalnys Unterstützung in Russland wirklich? Das lässt sich nicht quantifizieren, weil es in einer Diktatur keine wirklichen Meinungsumfragen gibt. Meine Einschätzung ist, dass immer noch eine Mehrheit Putins Politik unterstützt, auch weil viele Menschen keinen Zugang zu Informationen haben, die eine andere Meinung zulassen. Nur eines haben wir gesehen: Wann immer Nawalny oder sein Team eine Nachricht über die sozialen Medien in Umlauf gebracht hat, hat es in seiner Heimat Russland sofort Reaktionen in siebenstelliger Höhe gegeben.
Wie fest sitzt Kremlchef Putin im Sattel?
Er sitzt zu fest im Sattel, in der Ukraine entscheidet sich aber womöglich Putins Zukunft. Wenn es Russland nicht gelingt, in einem großen Ausmaß Territorium der Ukraine zu annektieren, ist es eine politische Niederlage für Putin. Wenn wir in Russland was bewirken wollen, müssen wir jetzt die Ukraine unterstützen.
Wie sehen Sie die Zukunft der Ukraine? Müssen wir uns im Westen warm anziehen?
Da müssen wir uns gewaltig warm anziehen. Ich glaube zwar, dass der Tod Nawalnys dazu beitragen wird, dass die USA die eingefrorenen Mittel für die Ukraine freigeben werden. Wenn man genau hinhört, was in Moskau etwa an diesem Wochenende wieder gesagt wurde, dann ist es klar, dass es nicht nur um den Donbas oder die Krim geht, sondern um die gesamte Ukraine. Und in einem nächsten Schritt droht Gefahr in diversen anderen Ländern, ich denke an die baltischen Staaten, den Zugang zu Königsberg, Moldau und Transnistrien. Die Ukraine ist für Putin nur ein erster Schritt. Das ist nicht das Endziel. Wir müssen uns sehr warm anziehen.