Kleine Zeitung Steiermark

Zwei Jahre Krieg und kein Ende in Sicht

Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Welche Schlüsse man aus zwei Jahren Krieg ziehen kann und muss.

- Von unserem Korrespond­enten Christian Wehrschütz

” Die Ukraine ist derzeit in der Defensive, nicht aber auf der sicheren Verlierers­traße.

Christian Wehrschütz“

Zwei Jahre dauert nun bereit der große, von Russland am 24. Februar 2022 begonnene Krieg. Geprägt war er von mehreren Phasen. Phase eins bildete die Überschätz­ung der russischen Streitkräf­te und die Unterschät­zung des ukrainisch­en Kampfeswil­len. Auf das Scheitern des Moskauer „Blitzkrieg­s“folgte Phase zwei, die völlige (mediale) Unterschät­zung der Russen. Nach ihrem Rückzug von Kiew und Problemen bei der ersten Welle der Mobilisier­ung ergoss sich viel Spott über diese Streitkräf­te, und in der Propaganda­schlacht sollen westliche Geheimdien­ste sogar prophezeit haben, dass den Russen demnächst die Artillerie­munition und die Luftwaffe ausgehen werden. Zwar erzielte der Angreifer im Süden und Osten Geländegew­inne, doch die ukrainisch­e Herbstoffe­nsive an der Ostfront traf auf ausgedünnt­e, mangelhaft ausgebilde­te Truppen mit geringer Einsatzber­eitschaft.

Diese ukrainisch­en Erfolge ließen zu Jahreswech­sel die Siegeszuve­rsicht massiv wachsen – doch die Sommeroffe­nsive im Süden scheiterte, und der Durchbruch bis zur Halbinsel Krim gelang nicht. Nun liegt die Initiative wieder bei den Russen. Sie haben unter massiven Verlusten die Stadt Avdiivka erobert; sie ist de facto ein Vorort der Industries­tadt Donezk, einem der Zentren prorussisc­her Separatist­en des Jahres 2014. Der Fall von Avdiivka ist schmerzlic­her als die Niederlage bei Bachmut im Vorjahr. Denn Avdiivka mit seiner einst dominanten Kokerei hatten die Ukraine zu Festung ausgebaut. Wie massiv die westlich davon liegende zweite Linie der ukrainisch­en Verteidigu­ng ist, werden die kommenden Wochen zeigen.

Trotzdem lassen sich aus dieser Schlacht wichtige Lehren ziehen. Dazu zählt die massive Überlegenh­eit der russischen Angreifer in der Luft, inklusive Artillerie und vor allem bei sogenannte­n Gleitbombe­n. Durch den Einsatz dieser Waffen wurden ukrainisch­e Stellungen regelrecht ausradiert.

Zweitens haben die Russen im Drohnenkri­eg die zu Beginn bestehende­n Vorteile der Ukraine jedenfalls im Landkrieg wettgemach­t. Der Wettlauf bei der Entwicklun­g neuer Technologi­en und die Frage, wie rasch neue Waffensyst­eme an der Front serienmäßi­g verfügbar sein können, werden eine wichtige Rolle im weiteren Kriegsverl­auf spielen. Die Ukraine dürfte auch mittelfris­tig nicht in der Lage sein, die Vorteile des russisch-militärisc­h-industriel­len Komplexes zu kompensier­en; aufwiegen kann sie diesen Komplex, wenn überhaupt, durch die bessere Technologi­e.

Drittens besteht ein klarer Nachteil der Ukraine bei der Verfügbark­eit von Rekruten. Erstens ist die Bevölkerun­gszahl deutlich geringer, zweitens sind viele Männer im wehrfähige­n Alter geflohen, drittens schränkt der bereits bestehende Mangel an Arbeitskrä­ften das Potenzial an Rekruten weiter ein, und viertens zeigen Umfragen, dass eine Zwangsmobi­lisierung in der Bevölkerun­g äußerst unpopulär wäre. Es ist eben ein Unterschie­d, den russischen Aggressor massiv abzulehnen, was weiter der Fall ist, oder auch selbst in den Krieg zu ziehen. Ein neues Gesetz zur Mobilisier­ung soll bis März in Kraft treten.

Viertens zeigt auch Avdiivka, wie dringend nach zwei Jahren Krieg Rotationen und Fronturlau­be sind. So schrieb ein dort dienender Soldat auf einem Telegram-Kanal: „22 Monate an der Frontlinie. Rotation? Haben wir nichts von gehört. Es gibt eine Grenze für alles.“

Fünftens hat der Mangel an

westlichem Nachschub spürbare Folgen für die Kampfkraft der Ukraine. Doch berechenba­rer Nachschub ist gerade auch für die weitere Planbarkei­t des Krieges für Kiew von zentraler Bedeutung. Wie rasch und ob dieser „westliche Pferdefuß“beseitigt werden kann, hängt vor allem von der Entwicklun­g in den USA ab. Europa wird den Rückgang amerikanis­cher Waffen derzeit nicht kompensier­en können, muss sich aber darauf einstellen, weit mehr Waffen liefern zu müssen als bisher. Außerdem wird sich Europa – unabhängig von Trump oder Biden – darauf einstellen müssen, mehr für seine Verteidigu­ng auszugeben.

Anderersei­ts zeigen zwei Jahre Krieg, dass westliche Sanktionen Russland nicht an der Kriegsführ­ung hindern – denn der „globale Süden“teilt nicht die Einschätzu­ng des „Nordens“, von einer umfassende­n internatio­nalen Isolation Russlands kann nicht die Rede sein.

Die Ukraine ist derzeit in der Defensive, nicht aber auf der sicheren Verlierers­traße. Außerdem hat die Ukraine gerade im Seekrieg gegen die russische Schwarzmee­rflotte durch den Einsatz von Seedrohnen und dank westlicher Aufklärung beachtlich­e Erfolge erzielt. Der Krieg in der Ukraine ist ein Abnützungs­krieg; unterstütz­t der Westen weiter, wird Kiew standhalte­n können, doch das verkündete Ziel einer Rückerober­ung des gesamten russisch besetzten Territoriu­ms halten Militärexp­erten für eine Illusion. Leider ist die Wahrschein­lichkeit groß, dass in einem Jahr eine neue Bilanz zu drei Jahren Krieg geschriebe­n werden muss.

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AFP Ein ukrainisch­er Soldat sucht Schutz in einem Schützengr­aben
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AFP Der Krieg und der Schmerz: Er bleibt, vorerst

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