„Ich lebe viel bewusster“
Ukraine-Korrespondent spricht über zwei Jahre im Krieg: Warum seine Lebensuhr noch nicht abgelaufen ist, die Akkreditierung aber schon.
Was hat sich für Sie persönlich in diesen zwei Jahren Krieg verändert?
CHRISTIAN WEHRSCHÜTZ: Ich lebe viel bewusster. In Kiew sind wir zwar gut geschützt, aber jeder weiß, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort sein kann. Wir sind mehrmals beschossen worden, das zu überleben, gibt dir das Gefühl, deine Lebensuhr ist noch nicht abgelaufen, aber du bist dir einer ständigen, dunklen Bedrohung bewusst. Zugleich gibt es diese bizarren Unterschiede im Alltag, wir haben an einem Tag über eine Hilfsaktion für Arme und danach über einen Wettbewerb von Sommeliers berichtet. Das ist kein Vorwurf, aber es zeigt, dass die Menschen auch im Ausnahmezustand versuchen, so normal wie möglich zu leben.
Welche Momente gehen Ihnen besonders nahe?
Die Leichen machen mir eigentlich nicht viel aus, weil die haben es eh hinter sich. Und Beschuss kriegt man nur mit, weil man nicht getroffen worden ist. Für mich persönlich am bewegendsten war eine Trauerfeier in Kiew für einen gefallenen Oberstleutnant. Die beiden Kinder waren völlig fertig, das Mädchen hat geschrien:
„Warum kommt er nicht zurück?!“. Sie haben sich über den Sarg gebeugt und ich habe in den beiden auch meine Kinder und meine Enkelin gesehen. Ich habe dafür gesorgt, dass Schwester und Bruder, damals zwölf und zehn Jahre alt, mit ihrer Mutter an einem Ferienprogramm in Österreich teilnehmen können, drei Wochen lang weg vom Krieg. Solche Programme halte ich für extrem wichtig.
Wenn wir in einem Jahr wieder über den Krieg sprechen – werden wir noch im Präsens sprechen? Ich glaube nicht, dass der Krieg bald endet, die offiziellen Positionen der Kriegsparteien sind diametral entgegengesetzt. Auf ukrainischer Seite hat man derartige Siegeserwartungen geweckt, wie soll Selenskyj seinem Volk erklären, dass man Gebiete an Russland abtritt? Ein Waffenstillstand würde in der Ukraine nur als Atempause für die nächste Runde gesehen werden. Der Westen gibt der Ukraine zu viel zum Sterben und zu wenig für einen Sieg. Ich glaube nicht, dass es zu einer militärischen Lösung kommt. Und wenn diese nicht in Sicht ist, muss ich schauen, wie ich aus dieser Situation herauskomme. Ich habe eine Allergie gegen jene, die die Ukraine einerseits zum Durchhalten aufrufen und andererseits jeden, der über Verhandlungen redet, als Putin-Anhänger beschimpfen. Wer so redet, soll an die Front fahren und kämpfen. Weil es geht auch um die Substanz des Landes, je länger der Krieg dauert, desto weniger werden zurückkommen. Aber ich bin Journalist und kein Politiker.
Ihre Akkreditierung, die für Besuche an der Front benötigt wird, wurde nicht verlängert, was heißt das für Ihre Arbeit?
Meine Familie ist froh, wenn ich nicht zur Front fahre. Aber wir haben die Aufenthaltsgenehmigung und wie Sie sehen, arbeiten wir nach wie vor sehr viel und werden das auch weiterhin tun. Meine Kameraleute haben auch die militärische Akkreditierung bekommen, meine wurde mit einem fragwürdigen Verweis auf einen vorherigen Antrag, der noch nicht erledigt wurde, neuerlich verweigert. Ich erwarte mir, dass die Ukraine, wenn sie Teil der EU sein will, im Sinne der Pressefreiheit zumindest erklärt, warum sie diese Akkreditierung nicht erteilt. Diese Erklärung ist man bisher schuldig geblieben. Ich erwarte mir auch vom offiziellen Österreich, hier klar Stellung zu beziehen. David Knes