Das Weghören ist jetzt nicht mehr mühsam
Das Ignorieren dessen, was in der Ukraine geschieht, fällt vielen Russen immer leichter. Doch es hat seinen Preis.
In der Bar Fogel an der Petersburger Fontanka kann man als Snack „Putín mit Schinken“bestellen. Auch die Gäste hier sind nicht unbedingt Duckmäuser. Am 24. Februar 2022 hätte sie ihren Körper in den russischen Nationalfarben Rot, Blau, Weiß angemalt, erzählt Kristina Kuplinowa, Künstlerin und Aktivistin im örtlichen Stab des liberalen Präsidentschaftskandidaten Boris Nadeschdin. Dann stellte sie sich in Unterwäsche und Turnschuhen auf den verschneiten Twerskoj-Boulevard in Moskau und protestierte. „Ich wollte zeigen, dass es ein nacktes, unbewaffnetes und aufrichtiges Russland gibt“, sagt sie. Kuplinowa, heute 28, kam damals mit einer Geldstrafe von zehntausend Rubel (gut 100 Euro) davon. Sie sagt, es sei auch eine Aktion gegen den eigenen Schmerz gewesen. „Hinterher fühlst du dich besser.“
Aus den Lautsprechern im Gorki-Park dröhnt Jazz, darunter tanzen bunt gekleidete Schlittschuhläufer übers Kunsteis. Im Meschtscherskij Waldpark fliegen Scharen von Modellathleten auf Fischerund Rossignol-Ski über von Pistenraupen gewalzte Skatingtrassen. Die Moskauer sind 2024 eine fröhliche und sehr sportliche Masse. Vereinzelte Männer in ärmlichen Tarnanoraks, die ohne Unterschenkel im Rollstuhl von dicken Frauen durch Stadtrandsupermärkte geschoben werden, übersieht man.
Zwei Jahre nach dem Beginn ist „Krieg“in Russland mehr denn je ein Unwort. Offiziell gebraucht man das Kürzel SWO, es kann auf Russisch ebenso gut „Wasserkühlsystem“wie „Spezialkriegsoperation“bedeuten. Inoffiziell spricht man von „ihm“. Einige Putin-Patrioten über 50 wollen zwar noch immer über den Krieg diskutieren. Aber die meisten Jüngeren schweigen lieber, reden stattdessen über Autos, über Reisen und ihre Kinder.
Im ersten Kriegsjahr wirkte das Weghören, das Plaudern und Gelächter in den Fußgängerzonen und Küchen noch mühsam. Jetzt klingen die Stimmen der Russen wieder echt, wenn sie über Omas Knieprobleme reden, oder über den nicht geräumten Schnee. Man spricht nicht über tote Bekannte, über Wladimir Putin oder Drohnenangriffe auf Kiew. Das russische Volk hat seinen Frieden gemacht mit dem Zermürbungskrieg am Dnjepr.
Aber es ist ein fauler und ungesunder Frieden. Laut einer Studie der Fachportale „Psichodemija“, „Alter“und „HeadHunter“stieg der Bedarf der Russen nach psychologischer Hilfe 2022 um knapp 63 Prozent. Und 2023 laut dem Dienstleistungsportal Awito Uslugy um weitere 35 Prozent. Das lässt vermuten, dass auch die schweigende Mehrheit unter dem Krieg und der immer stärker werdenden staatlichen Repression leidet.
Kristina, die Petersburger Aktionskünstlerin, sagt, ihre Position habe sich seit 2022 nicht geändert. Nicht allein Russland sei schuld, die geopolitische Lage sei komplex, ohne Dialog könne der Konflikt nicht gelöst werden. Aber Putin habe angefangen und das sei ein Verbrechen. „Das können Sie auch so schreiben.“
Am Wochenende hat sich Kristina wieder rot-blau-weiß bemalt und nackt in den Schnee gelegt, vor einem Denkmal für die Leningrader Opfer des Stalin-Terrors. Diesmal aus Protest gegen den Tod Alexej Nawalnys. Ein Foto davon hängt jetzt auf ihrer Instagram-Seite neben dem Video, auf dem sie im Februar 2022 ein Plakat in den Moskauer Winterhimmel reckt. „Wir werden dir das nie verzeihen!“, lautet die Aufschrift.