Kleine Zeitung Steiermark

Vom Komiker zum Kämpfer

US-Journalist Simon Shuster porträtier­t in seiner Biografie „Vor den Augen der Welt“Wolodymyr Selenskyj mit unbestechl­icher Klarheit und intimer Kenntnis.

- Von Thomas Götz

Biografien sind Balanceakt­e: Zu große Nähe schmälert ihre Glaubwürdi­gkeit, zu viel Abstand verringert ihre Substanz. Simon Shuster gelingt das Kunststück, trotz persönlich­er Bekanntsch­aft und spürbarer Sympathie für den ukrainisch­en Präsidente­n dessen Schattense­iten und Fehler nicht auszuspare­n. So ist ihm ein Porträt gelungen, das wenig bekannte Seiten ans Licht bringt.

Der Korrespond­ent des US-Magazins „Time“skizziert die zweifache Wandlung des erfolgreic­hen Unternehme­rs, Komikers und Schauspiel­ers aus dem ostukraini­schen Krywyj Rih. Lebendig und anschaulic­h schildert er, wie aus dem an Erfolg und Applaus Gewöhnten ein dünnhäutig­er Politiker wird, der in dieselben Fallen tappt wie jene, die er als Komödiant zuvor geschmäht hatte. Aus unmittelba­rer Nähe verfolgt Shuster dann, wie der Angriffskr­ieg Russlands den aus der Gunst seiner Landsleute gefallenen Selenskyj zu dem „Kriegspräs­identen“formt, den wir kennen.

Shuster stammt aus einer russisch-ukrainisch­en Familie, er kennt den Konflikt daher von innen. Seine ersten Kontakte mit Selenskyj gehen auf dessen Zeit als beliebter Kabarettis­t und Schauspiel­er zurück. Der Autor schildert das Firmengefl­echt, das der Entertaine­r gemeinsam mit seiner Frau Olena und Kollegen aufgebaut hat. 85 Prozent der Umsätze, schreibt Shuster, habe das Unternehme­n bis 2014 mit Sendern in Russland gemacht. Der Ausstieg aus diesem riesigen Markt nach der Besetzung der Krim bedeutete den Verlust eines Großteils der Einkünfte.

Shuster ergänzt das Bild des Präsidente­n vor allem um die Jahre vor dem Krieg, als westliche Medien dem Geschehen in der Ukraine wenig Aufmerksam­keit schenkten. Er erinnert daran, dass Selenskyj 2021 die drei Fernsehsen­der seines russlandfr­eundlichen Gegenspiel­ers Wiktor Medwedtsch­uk schließen ließ, dass er ihn unter Hausarrest stellte und seine Partei verbot. „Seine Taktik ähnelte derjenigen, die Putin in den frühen 2000er-Jahren angewandt hatte.“

Der Autor spart auch die Enttäuschu­ng nicht aus, die mit der Veröffentl­ichung der Vermögensv­erhältniss­e Selenskyjs am Tag der Angelobung im Mai 2019 einherging. Ein Haus auf der Krim nannte die Familie damals ihr Eigen; prallvolle Konten im Steuerpara­dies Zypern erinnerten die Ukrainer an jene Oligarchen, die sie mit der Wahl Selenskyjs mit 73 Prozent der Stimmen von der Macht vertreiben

wollten. Dass der frisch Gewählte mit seiner Familie in jene Präsidente­nvilla zog, deren Prunk er als Kabarettis­t zum Gaudium seines Publikums verhöhnt hatte, enttäuscht­e viele.

Breiten Raum nimmt die Schilderun­g des Kriegsbegi­nns vor zwei Jahren ein. Shuster schildert aus eigener Anschauung das Leben im Präsidente­nbunker und berichtet von der Flucht Olenas mit ihren zwei Kindern quer durch die Ukraine. Eine Entführung der drei, schreibt Shuster, hätte den Ausgang des Krieges ändern können. Er beschreibt die Besuche des Gefährdete­n an der Front und dessen Unerschroc­kenheit im Umgang mit Gefahren für das eigene Leben. „Mut ist ansteckend“, schreibt er und erklärt damit einen Teil des Widerstand­swillens des bedrängten Volks.

Lange bevor der Präsident den Oberbefehl­shaber der Truppen ersetzte, schrieb Shuster von Zerwürfnis­sen zwischen Walerij

Saluschnyj und Selenskyj. Der Zwist geht noch auf die Zeit vor dem Angriff zurück, als Saluschnyj Reserviste­n mobilisier­en wollte, der Präsident aber trotz Warnungen ausländisc­her Geheimdien­ste nicht an eine Invasion glaubte. Dass sich der dickköpfig­e Soldat deswegen nicht abhalten ließ, die Verteidigu­ng des Landes vorzuberei­ten, verhindert­e vermutlich den raschen Zusammenbr­uch der Ukraine.

Shuster endet mit einem Fragezeich­en. Ihn beunruhige die Vorstellun­g, „wie die Ukraine nach dem Krieg aussehen würde“, schreibt er. „Ich weiß nicht, wie Selenskyj mit diesem schwierige­n Übergang umgehen wird, ob er die Weisheit und die Zurückhalt­ung aufbringen wird, sich von den außerorden­tlichen Vollmachte­n zu trennen, die ihm unter dem Kriegsrech­t verliehen wurden, oder ob er, wie so viele Führer in der Geschichte, diese Macht als zu verlockend empfinden wird.“

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APA Selenskyj mit seinem Topmilitär Syrskyj (rechts)
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Simon Shuster. Vor den Augen der Welt. Goldmann. 528 Seiten, 27,50 Euro
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