Vom Komiker zum Kämpfer
US-Journalist Simon Shuster porträtiert in seiner Biografie „Vor den Augen der Welt“Wolodymyr Selenskyj mit unbestechlicher Klarheit und intimer Kenntnis.
Biografien sind Balanceakte: Zu große Nähe schmälert ihre Glaubwürdigkeit, zu viel Abstand verringert ihre Substanz. Simon Shuster gelingt das Kunststück, trotz persönlicher Bekanntschaft und spürbarer Sympathie für den ukrainischen Präsidenten dessen Schattenseiten und Fehler nicht auszusparen. So ist ihm ein Porträt gelungen, das wenig bekannte Seiten ans Licht bringt.
Der Korrespondent des US-Magazins „Time“skizziert die zweifache Wandlung des erfolgreichen Unternehmers, Komikers und Schauspielers aus dem ostukrainischen Krywyj Rih. Lebendig und anschaulich schildert er, wie aus dem an Erfolg und Applaus Gewöhnten ein dünnhäutiger Politiker wird, der in dieselben Fallen tappt wie jene, die er als Komödiant zuvor geschmäht hatte. Aus unmittelbarer Nähe verfolgt Shuster dann, wie der Angriffskrieg Russlands den aus der Gunst seiner Landsleute gefallenen Selenskyj zu dem „Kriegspräsidenten“formt, den wir kennen.
Shuster stammt aus einer russisch-ukrainischen Familie, er kennt den Konflikt daher von innen. Seine ersten Kontakte mit Selenskyj gehen auf dessen Zeit als beliebter Kabarettist und Schauspieler zurück. Der Autor schildert das Firmengeflecht, das der Entertainer gemeinsam mit seiner Frau Olena und Kollegen aufgebaut hat. 85 Prozent der Umsätze, schreibt Shuster, habe das Unternehmen bis 2014 mit Sendern in Russland gemacht. Der Ausstieg aus diesem riesigen Markt nach der Besetzung der Krim bedeutete den Verlust eines Großteils der Einkünfte.
Shuster ergänzt das Bild des Präsidenten vor allem um die Jahre vor dem Krieg, als westliche Medien dem Geschehen in der Ukraine wenig Aufmerksamkeit schenkten. Er erinnert daran, dass Selenskyj 2021 die drei Fernsehsender seines russlandfreundlichen Gegenspielers Wiktor Medwedtschuk schließen ließ, dass er ihn unter Hausarrest stellte und seine Partei verbot. „Seine Taktik ähnelte derjenigen, die Putin in den frühen 2000er-Jahren angewandt hatte.“
Der Autor spart auch die Enttäuschung nicht aus, die mit der Veröffentlichung der Vermögensverhältnisse Selenskyjs am Tag der Angelobung im Mai 2019 einherging. Ein Haus auf der Krim nannte die Familie damals ihr Eigen; prallvolle Konten im Steuerparadies Zypern erinnerten die Ukrainer an jene Oligarchen, die sie mit der Wahl Selenskyjs mit 73 Prozent der Stimmen von der Macht vertreiben
wollten. Dass der frisch Gewählte mit seiner Familie in jene Präsidentenvilla zog, deren Prunk er als Kabarettist zum Gaudium seines Publikums verhöhnt hatte, enttäuschte viele.
Breiten Raum nimmt die Schilderung des Kriegsbeginns vor zwei Jahren ein. Shuster schildert aus eigener Anschauung das Leben im Präsidentenbunker und berichtet von der Flucht Olenas mit ihren zwei Kindern quer durch die Ukraine. Eine Entführung der drei, schreibt Shuster, hätte den Ausgang des Krieges ändern können. Er beschreibt die Besuche des Gefährdeten an der Front und dessen Unerschrockenheit im Umgang mit Gefahren für das eigene Leben. „Mut ist ansteckend“, schreibt er und erklärt damit einen Teil des Widerstandswillens des bedrängten Volks.
Lange bevor der Präsident den Oberbefehlshaber der Truppen ersetzte, schrieb Shuster von Zerwürfnissen zwischen Walerij
Saluschnyj und Selenskyj. Der Zwist geht noch auf die Zeit vor dem Angriff zurück, als Saluschnyj Reservisten mobilisieren wollte, der Präsident aber trotz Warnungen ausländischer Geheimdienste nicht an eine Invasion glaubte. Dass sich der dickköpfige Soldat deswegen nicht abhalten ließ, die Verteidigung des Landes vorzubereiten, verhinderte vermutlich den raschen Zusammenbruch der Ukraine.
Shuster endet mit einem Fragezeichen. Ihn beunruhige die Vorstellung, „wie die Ukraine nach dem Krieg aussehen würde“, schreibt er. „Ich weiß nicht, wie Selenskyj mit diesem schwierigen Übergang umgehen wird, ob er die Weisheit und die Zurückhaltung aufbringen wird, sich von den außerordentlichen Vollmachten zu trennen, die ihm unter dem Kriegsrecht verliehen wurden, oder ob er, wie so viele Führer in der Geschichte, diese Macht als zu verlockend empfinden wird.“