Vorhang für das alte, wilde Kind
Enfant terrible, Bürgerschreck: Die Rolle war wichtig. Heute ist sie belastet.
Ob es ein Privileg ist, dass ich noch echte Bürgerschrecks erleben durfte: Ich bin mir nicht sicher. Männer, die im „Club 2“in der Nase bohrten! Weil sie sich nicht vorschreiben ließen, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat! Dichter, die im Gasthaus der Kellnerin an den Hintern langten! Nicht, weil sie miese Schweine waren, sondern weil es ihrem Naturell entsprach, sich um Konventionen nix zu scheren!
Bürgerschreck, Exzentriker, Enfant terrible. Österreich verbindet eine lange, komplexe Liebesgeschichte mit Künstlern und Medienleuten, die sich in Verhalten und Äußerungen aus der Norm begaben. Anders zu sein, das war ja einmal ein mutiger Akt, zumal in Gesellschaften, die ihren Angehörigen ein enges Korsett aus Regeln geschnürt hatten. Wer Anfang der 70er-Jahre als langhaariger Jungherr die Stadt durchmaß, bekam ich unlängst erzählt, musste noch damit rechnen, von rechtschaffenen Mitbürgern angespuckt zu werden. Da brauchte es Saubarteln, die mit dem, was sich angeblich gehörte, radikal aufräumten. Hat ja auch geholfen, wir tun uns heute leichter, die Leute so sein zu lassen, wie sie halt sein wollen. Der Bürgerschreck als gesellschaftliches Korrektiv hat ausgedient.
Aber wir haben nicht aufgehört, diesen Männertyp toll zu finden, auch wenn er längst ranzig ist. Ist mir auch erst aufgefallen, als in der Doku „Gegen das Schweigen“der Theatermacher Paulus M. wiederholt mit der Bezeichnung „Enfant terrible“gekost wurde. Das alte, wilde Kind, es durfte sich schlecht benehmen, das wurde sogar von ihm erwartet. Nun aber werfen ihm in dem Film viele, die für ihn gearbeitet haben, verbale und körperliche Übergriffe vor. Einiges war gerüchteweise wohl bekannt, aber es spielte für Umfeld und Publikum lange keine Rolle. Der Ruf als Enfant terrible, unterfüttert mit etwas Geniekult und dem, was die Angelsachsen „Himpathy“– Sympathievorschuss fürs männliche Gegenüber – nennen, hat Übergriffigkeit mehr befördert als unterbunden. Aus dem schlechten Ruf wurde ein Freibrief, und was die Öffentlichkeit hätte alarmieren sollen, hat sie eingelullt.
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s nicht nur ungeniert, sondern sogar von ihm beschützt. Bisher. Endlich ist dafür der Vorhang herunten.