Kleine Zeitung Steiermark

„Zu Beginn hatten wir noch Tierfutter zu essen“

Der Lehrer Mohammed El Kasseih lebt mit seiner Familie im Norden Gazas. Per WhatsApp berichtet er über die katastroph­ale Lage.

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ohammed Jaber El Kasseihs Familie wartete in einer zur Notunterku­nft umfunktion­ierten Schule im Norden Gazas auf seine Rückkehr vom Strand. Dort hatten die Amerikaner gemeinsam mit der jordanisch­en Luftwaffe am 2. März 38.000 Pakete mit Hilfsgüter­n abgeworfen, der Lehrer war bereits am frühen Morgen zum Meer aufgebroch­en.

Doch das Warten war vergeblich. In den Sanddünen hatte sich bereits eine riesige Menge versammelt, Videos zeigen, wie der Pulk in Richtung Brandung stürmt, als die Pakete auf dem Sand und im flachen Wasser landen. Menschen prügelten sich zum Teil mit Stöcken um die Hilfsgüter. Manche, die leer ausgingen, schrien sich ihre Verzweiflu­ng aus dem Leib. „Ich habe gar nichts bekommen, hier waren so viele Menschen“, schreibt El Kasseih in einer WhatsApp-Nachricht.

Die ehemalige Schule, in der er mit seiner Familie und 4000 anderen Schutzsuch­enden lebt, ist laut El Kasseih völlig überfüllt. „Unsere Kinder sind sehr schwach geworden, sie sind nur noch Haut und Knochen“, schreibt der 35-Jährige. Kinder anderer Familien in der Schule seien bereits an Unterernäh­rung gestorben. Auch den Erwachsene­n sei die Unterernäh­rung anzusehen. „Jeder von uns hat mindestens die Hälfte an Gewicht verloren“, sagt er.

Es ist schwierig, sich ein Bild von der humanitäre­n Lage im Norden Gazas zu machen. Israel und Ägypten verwehren ausländisc­hen Journalist­en seit Kriegsbegi­nn die Einreise in den Gazastreif­en. Internatio­nale Medien können daher nur

Mmithilfe lokaler Mitarbeite­r berichten. Der völlig zerstörte Norden des Gazastreif­ens gilt dabei als besonders schwer erreichbar. Die Straßen sind von Trümmern blockiert. Es gibt kaum Internet und Strom.

Die Schätzunge­n, wie viele Menschen noch im verwüstete­n Norden ausharren, sind vage. Knapp 80 Prozent der rund zwei Millionen Einwohner Gazas sollen in der Nähe der Grenze zu Ägypten Schutz gesucht haben. Hunderttau­sende könnten sich aber immer noch im Norden Gazas aufhalten. Die Versorgung mit Lebensmitt­eln gestaltet sich bereits im mit Geflüchtet­en überfüllte­n Süden schwierig. Internatio­nale Organisati­onen werfen Israel vor, Lastwägen mit Hilfsgüter­n zu langsam an der Grenze abzufertig­en. Gleichzeit­ig verortet das Welternähr­ungsprogra­mm (WFP) der UNO 600.000 Menschen in Gaza in der schlimmste­n Kategorie von Hunger. Ihr Leben sei akut in Gefahr, warnt die UNO.

Laut El Kasseih haben im Norden zwar noch einige Geschäfte geöffnet, doch dort gebe es nur noch Süßigkeite­n und Snacks zu horrenden Preisen.

Er selbst verbringe seine Tage daher mit der Suche nach Nahrung. Zuerst habe seine Familie Tierfutter gegessen und „alle Arten von Tieren“, schreibt der Lehrer. Inzwischen sammle er Pflanzen. „Das Einzige, was wir jeden Tag essen, ist Hibiskus. Aber der wächst nur zur Regenzeit und die ist bald zu Ende.“

El Kasseih schildert auch den Zusammenbr­uch der öffentlich­en Ordnung in Gaza. Von der Polizei oder Verwaltung sei nichts mehr auf den Straßen zu sehen. Stattdesse­n setzte sich das Recht des Stärkeren gegenüber jenen durch, die der Hunger bereits geschwächt habe. Die Luftbrücke der Amerikaner und Jordanier könne deshalb wenig ausrichten. „Der Bedarf ist so hoch, dass er durch Abwürfe nicht zu decken ist. Wir brauchen Lieferunge­n über den Land- oder Seeweg“, schreibt er. Die EU und die USA haben als Reaktion auf den Hunger in Gaza auch bereits die Einrichtun­g einer Seebrücke von Zypern aus beschlosse­n. Am Dienstag stach bereits das erste Schiff in See, ob Mohammed Jaber El Kasseih dann mehr Glück bei der Verteilung der Hilfsgüter hat, steht aber in den Sternen.

Cedric Rehman

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