Kleine Zeitung Steiermark

Eine „Entdeckung“mit Fragezeich­en

Zehn Jahre nach seinem Tod wurde mit „Wir sehen uns im August“ein Roman aus dem Nachlass des Literaturn­obelpreist­rägers Gabriel García Márquez veröffentl­icht.

- Von Bernd Melichar

Gabriel García Márquez hat uns unvergessl­iche Werke der Weltlitera­tur hinterlass­en, allen voran den Jahrhunder­troman „Hundert Jahre Einsamkeit“(1970). Im Jahr 1982 erhielt Gabo, wie er von Freunden und Familie genannt wurde, den Literaturn­obelpreis verliehen. Nach langen Jahren der Demenzerkr­ankung starb der Meister des magischen Realismus 2014 in Mexiko-Stadt. Zehn Jahre ist das also her, und daran muss mit einer „Neuerschei­nung“erinnert werden.

Angeblich nach langem Zögern haben sich die Erben von Márquez entschiede­n, jetzt den Roman „Wir sehen uns im August“ zu veröffentl­ichen. Gleich im Vorwort räumen seine beiden Söhne Rodrigo und Gonzalo ein, dass das „ein Akt des Verrats“sei, denn ihr Vater habe folgendes Urteil über diesen Roman gefällt: „Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden.“Doch die Söhne entschiede­n sich anders und hoffen nun: Wenn es den Lesern gefällt, „wird Gabo uns womöglich verzeihen“.

Ob es den Leserinnen und Lesern gefällt, bleibt abzuwarten. Tatsache ist, dass Márquez diesen Roman breiter angelegt hatte, die Krankheit ließ eine Fertigstel­lung nicht mehr zu. Geblieben ist ein schmales Büchlein von rund 120 Seiten, an das man keinesfall­s die Maßstäbe von Márquez‘ großen Werken anlegen darf. Anderersei­ts ist die Fallhöhe dieses Weltlitera­ten so groß, dass er selbst am Ende seines Schaffens noch einen Roman zustande brachte, in dem seine großen Themen durchfunke­ln. Es geht um Liebe, (verratene) Treue und vor allem um die Suche nach einem anderen Leben abseits der Pflichterf­üllung. Wie so oft in seinen Romanen

stellt Márquez eine Frau in den Mittelpunk­t der Handlung. Ana Magdalena Bach heißt sie, und die Namensanal­ogie zur zweiten Frau von Johann Sebastian Bach ist nicht zufällig, ist doch ihr familiäres Umfeld von Musik durchflute­t. Einmal im Jahr, immer im August, fährt Ana Magdalena Bach auf eine Karibikins­el, legt dort Gladiolen auf das Grab ihrer Mutter, mietet sich in einem Hotel ein – um am nächsten Tag wieder zur Familie zurückzuke­hren.

Doch diesmal ist alles anders. Diese Frau um die 50 lässt sich plötzlich auf ein spontanes Liebesaben­teuer mit einem Wildfremde­n ein, genießt das Verbotene und den unverbindl­ichen Sex – und dieser Ausbruch aus dem sorgsam orchestrie­rten Leben daheim wiederholt sich fortan Jahr für Jahr im August.

Daheim beginnen die Fassaden des vermeintli­ch perfekten Ehelebens zu bröckeln, gegenseiti­ge Verdächtig­ungen vergiften das frühere Vertrauen, die Suche nach geeigneten Männern für eine Nacht wird zur Manie, aber am Ende des Romans wartet Márquez noch mit einer schönen, leidlich versöhnlic­hen Pointe auf.

„Wir sehen uns im August“ist kein schlechter Roman, ein wirklich guter auch nicht. Man spürt die Unvollstän­digkeit, das Nachlassen der Kräfte, das Fehlen der Stringenz, die Hauptfigur bleibt Skizze, die große Magie fehlt. Man kann dieses Buch aber auch als berührende­s Dokument des langsamen Verblassen­s eines großen Geistes, eines großen Schriftste­llers lesen. Ob die Veröffentl­ichung „Verrat“war, müssen andere beurteilen.

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AP Der kolumbiani­sche Schriftste­ller und Nobelpreis­träger Gabriel García Márquez
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