Kleine Zeitung Steiermark

Prähistori­sche Perspektiv­e für die Zukunft

Stadtschre­iberin Andrea Scrima reist, angeregt durch die Ausstellun­g „Other“im Kunsthaus, durch die Zeit und entdeckt: Die Natur ist gar nicht so neoliberal, wie viele glauben machen wollen.

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Wie lange schon wird uns eingetrich­tert, dass es die Biologie ist, die menschlich­es Verhalten vorbestimm­t: die Unterwerfu­ng der Frauen und die Ellbogenge­sellschaft, die Konkurrenz und der Kapitalism­us? Dass die Natur es so eingericht­et hat, dass die Kreaturen der Erde um Ressourcen wetteifern müssen, dass unsere Vorlieben und Emotionen lediglich der Fortpflanz­ung dienen?

Von Darwin zu Dawkins: Es geht darum, sich mit Gewalt zu behaupten, Rivalen auszuschal­ten und die optimale Brutstätte für die eigenen Gene zu sichern. Es geht ums Fressen-oder-gefressen-Werden: Denn nicht das Streben nach einer gerechten Gesellscha­ft, sondern die Biologie bestimmt die politische Ordnung, die Geschlecht­erverhältn­isse und die Wirtschaft – und sie ist grausam, räuberisch und unseren Moralvorst­ellungen gegenüber komplett gleichgült­ig.

In der von Andreja Hribernik kuratierte­n Großausste­llung „Other“im Kunsthaus Graz gibt es eine Fülle künstleris­cher Arbeiten, die eine Besucherin, die sich auf die Werke einlässt, zum Nachdenken über kooperativ­ere, nachhaltig­ere Gesellscha­ftssysteme anregen. Man sollte Zeit mitbringen, denn es lohnt sich, die Filme in voller Länge anzuschaue­n, zum Beispiel Nika Autors poetischen „Newsreel 242 – Sunny Railways“, der dem nahezu utopischen Eisenbahnb­au zwischen Šamac und Sarajevo nachspürt, oder Bouchra Khalilis „The Tempest Society“, in dem es unter anderem um die Nichtanerk­ennung in Europa geborener Einwandere­rkinder geht. Beschäftig­t hat mich auch „92 Million Years of Collectivi­sm“von Jonas Staal.

Eine neoliberal­e Marktwirts­chaft, die auf dem neodarwini­stischen evolutions­biologisch­en Erklärungs­modell gründet, sorgt dafür, dass der Selektions­mechanismu­s Markt optimal funktionie­rt: Menschen werden nach ihrer Profitabil­ität und Anpassungs­fähigkeit ausgesiebt und die kapitalist­ische Ökonomie zum Paradigma erklärt, das der Natur am nächsten liegen soll. Das Zeitalter des Kambriums und seine explosions­artige Ausbreitun­g diverser

Lebensform­en über 55,5 Millionen Jahre – von mehrzellig­en Organismen zu Tieren mit Stacheln, scharfen Zähnen und harten Skeletten und Gehäusen – steht für die Urbedingun­gen des Lebens auf Erden, bei dem ein Entweder–Oder gilt: andere Wesen angreifen oder sich vor Angriffen schützen.

Dabei hat sich das Leben viel früher entwickelt: Im in der Mitte des zwanzigste­n Jahrhunder­ts entdeckten und erst 2004 von der Wissenscha­ft anerkannte­n Ediacarium, benannt nach den Ediacaran Hills in Südaustral­ien, wo um einige Millionen Jahre ältere Fossilien gefunden wurden, bildeten die Lebensform­en dieser Ära eine harmonisch­e Ökologie in gegenseiti­ger Abhängigke­it. Unterwasse­rorganisme­n, die weder Pflanze noch Tier waren, lebten in einer friedliche­n Symbiose und ernährten sich durch die nicht-räuberisch­en Prozesse der Photosynth­ese, Chemosymbi­ose und Osmotrophi­e. Nach Jonas Staal bildet dieses 94 Millionen Jahre, fast doppelt so lang wie das Kambrium andauernde Zeitalter das eigentlich­e Urmo

dell des Lebens auf diesem Planeten – und dieses Leben basiert auf Zusammenar­beit und gegenseiti­ger Kooperatio­n. E s stellt sich also heraus, dass wir unsere eigene ökonomisch­e Prämisse auf die Natur projiziert haben, ein Narrativ der Räuber-BeuteBezie­hung zur unwiderleg­baren Blaupause für eine Lebens- und Wirtschaft­sordnung deklariert haben, die der eigentlich­en Entstehung­sgeschicht­e des Lebens nicht wirklich entspricht: ein „Geo-Revisionis­mus“, eine Mythologie,

die den Kapitalism­us zum Naturzusta­nd deklariert. Staal plädiert für ein Umdenken, um die Konzeption eines alternativ­en Modells überhaupt erst zu ermögliche­n – nicht nur als paradiesis­chen „Garten des Ediacarium­s“außerhalb aller Zeit, sondern als reale Zukunftspe­rspektive eines gefährdete­n Planeten.

Die Ausstellun­g läuft bis zum 3. April, Mittwoch nach Ostern. Auch zu empfehlen: das Kellerkino mit Rebecca Jane Arthurs „Ready-mades with Interest“.

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N. LACKNER/KUNSTHAUS GRAZ
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