Kleine Zeitung Steiermark

Russland sucht Antworten

Die Opferzahl des blutigsten Terrorakts in Russland seit 2004 wächst weiter. Längst ist eine Propaganda­schlacht um Täter und Hinterleut­e entbrannt.

- Von unserem Korrespond­enten Stefan Scholl aus Moskau

Sie wirkten wie Sportschüt­zen. Vier Männer in Kampfanzüg­en, die sich in einem Gang zwischen den roten Sesselreih­en aufgestell­t hatten und fliehende oder am Boden kauernde Menschen mit automatisc­hen Sturmgeweh­ren aufs Korn nahmen und erschossen. „Sie sprachen nicht“, sagte ein Überlebend­er dem Portal Waschnije Istorii. „Sie bewegten sich und schossen wie Panzer.“

Am Freitagabe­nd stürmten Terroriste­n den Konzertsaa­l Crocus City Hall an der Moskauer Ringautoba­hn, wo sich mehrere Tausend Menschen zu einem Konzert der russischen Popgruppe Piknik versammelt hatten. Am Vormittag gab der Geheimdien­st FSB bekannt, man habe die vier Täter nachts beim Dorf Chazun nahe der westrussis­chen Stadt Brjansk in ihrem Fluchtauto gestellt und festgenomm­en. Einer der mutmaßlich­en Massenmörd­er gestand in einem Video, das RT-Chefin Margarita Simonjan veröffentl­ichte, er hätte sich für umgerechne­t 5000 Euro per Telegram-Kanal von Unbekannte­n anheuern lassen. Insgesamt sollen die Ermittler elf Tatbeteili­gte dingfest gemacht haben.

Es war der blutigste Terrorakt in Russland seit der Massengeis­elnahme in der Schule von Beslan 2004 mit 333 Toten. Nach Angaben des russischen Ermittlung­skomitees starben bis Samstagnac­hmittag 115 Menschen, darunter drei Kinder, RT-Chefin Simonjan sprach von 143 Todesopfer­n. Verwundet wurden mindestens 140. Die Terroriste­n entfachten mit mehreren Benzinkani­stern ein Großfeuer, das 13.000 Quadratmet­er erfasste. Die fliehenden Menschen aber hatten die aus ungeklärte­n Gründen geschlosse­nen Eingangstü­ren aufbrechen müssen, um zu entkommen, auch die Notausgäng­e waren blockiert.

Längst tobt nun eine Propaganda­schlacht um die Täter und ihre Hinterleut­e: Russlands Präsident Wladimir Putin sagte in einer TV-Ansprache, die Organisato­ren des Terrorschl­ages hätten wie einst die Nazis eine demonstrat­ive Hinrichtun­g geplant. Im Gegensatz zu anderen russischen Politikern machte er die Ukraine nicht namentlich verantwort­lich. Aber er erklärte, die Todesschüt­zen hätten sich in Richtung Ukraine bewegt, wo die ukrainisch­e Seite ein „Fenster zur Überquerun­g der Grenze“vorbereite­t hätte. Schon vorher hatten viele Experten in Moskau versichert, die USA wären zumindest eingeweiht gewesen.

In der Ukraine dagegen argwöhnt man, der Kreml veranstalt­e eine Provokatio­n, wie er schon 1999 den zweiten Tschetsche­nienkrieg mit in die Luft gejagten Wohnhochhä­usern provoziert habe. Der Kiewer Politologe Igar Tyschkewit­sch schrieb auf dem Portal Glawred, er wundere sich nicht, wenn

schon am Morgen eine ukrainisch­e Spur entdeckt werde. „Oder sie töten einen der Angreifer und finden dann eine Visitenkar­te des ukrainisch­en Geheimdien­stschefs Kyrylo Budanow in seiner Hosentasch­e.“Danach werde Moskau etwas Hysterie veranstalt­en und weiter eine neue Mobilmachu­ng.

Westliche Experten vermuten dagegen die Terrorgrup­pe Islamische­r Staat hinter der Tat. Die im afghanisch-pakistanis­chen Grenzgebie­t basierende IS-Gruppe Khorosan bekannte sich per Telegram zum Attentat, meldete Reuters. „Sie haben Zugang zu Russland und sie haben eine offene Rechnung“, bestätigte der amerikanis­che Russland-Fachmann David Satter dem TV-Kanal

Doschd. Moskau hätte eine wichtige Rolle bei der Rettung des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien vor der IS gespielt.

Für islamistis­chen Terrorismu­s spricht auch die Mitteilung des Weißen Hauses, es habe die russischen Behörden vorher über Anschlagsp­läne informiert. Schon zu Beginn des Monats veröffentl­ichte die US-Botschaft eine Reisewarnu­ng an US-Bürger in Russland, wegen drohender Anschläge Menschenme­ngen und Großverans­taltungen zu meiden. Laut Satter basierte diese Warnung auf Informatio­nen aus dem Nahen Osten. Hätten die russischen Sicherheit­sorgane eine Provokatio­n geplant, so wären die USA kaum im Bilde gewesen.

Russische Kommentato­ren jedoch betrachten die Vorwarnung der Amerikaner als Indiz dafür, dass diese selbst in den Anschlag verwickelt seien. Vor allem aber zielen die russischen Verdächtig­ungen auf die Ukraine. In Kiew dagegen hält man das eigene Land als angebliche­s Fluchtziel der Terroriste­n für absurd. Das Grenzgebie­t sei überfüllt mit Soldaten und Sicherheit­sdienstler­n, die Grenze selbst vermint, kommentier­te Andrij Jussow, Sprecher des ukrainisch­en Geheimdien­stes gegenüber 24tv.ua.: „Um da in die Ukraine fliehen zu wollen, muss man schon ein absoluter Idiot oder lebensmüde sein.“

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IMAGO Spezialein­heiten direkt nach dem Anschlag

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