Russland sucht Antworten
Die Opferzahl des blutigsten Terrorakts in Russland seit 2004 wächst weiter. Längst ist eine Propagandaschlacht um Täter und Hinterleute entbrannt.
Sie wirkten wie Sportschützen. Vier Männer in Kampfanzügen, die sich in einem Gang zwischen den roten Sesselreihen aufgestellt hatten und fliehende oder am Boden kauernde Menschen mit automatischen Sturmgewehren aufs Korn nahmen und erschossen. „Sie sprachen nicht“, sagte ein Überlebender dem Portal Waschnije Istorii. „Sie bewegten sich und schossen wie Panzer.“
Am Freitagabend stürmten Terroristen den Konzertsaal Crocus City Hall an der Moskauer Ringautobahn, wo sich mehrere Tausend Menschen zu einem Konzert der russischen Popgruppe Piknik versammelt hatten. Am Vormittag gab der Geheimdienst FSB bekannt, man habe die vier Täter nachts beim Dorf Chazun nahe der westrussischen Stadt Brjansk in ihrem Fluchtauto gestellt und festgenommen. Einer der mutmaßlichen Massenmörder gestand in einem Video, das RT-Chefin Margarita Simonjan veröffentlichte, er hätte sich für umgerechnet 5000 Euro per Telegram-Kanal von Unbekannten anheuern lassen. Insgesamt sollen die Ermittler elf Tatbeteiligte dingfest gemacht haben.
Es war der blutigste Terrorakt in Russland seit der Massengeiselnahme in der Schule von Beslan 2004 mit 333 Toten. Nach Angaben des russischen Ermittlungskomitees starben bis Samstagnachmittag 115 Menschen, darunter drei Kinder, RT-Chefin Simonjan sprach von 143 Todesopfern. Verwundet wurden mindestens 140. Die Terroristen entfachten mit mehreren Benzinkanistern ein Großfeuer, das 13.000 Quadratmeter erfasste. Die fliehenden Menschen aber hatten die aus ungeklärten Gründen geschlossenen Eingangstüren aufbrechen müssen, um zu entkommen, auch die Notausgänge waren blockiert.
Längst tobt nun eine Propagandaschlacht um die Täter und ihre Hinterleute: Russlands Präsident Wladimir Putin sagte in einer TV-Ansprache, die Organisatoren des Terrorschlages hätten wie einst die Nazis eine demonstrative Hinrichtung geplant. Im Gegensatz zu anderen russischen Politikern machte er die Ukraine nicht namentlich verantwortlich. Aber er erklärte, die Todesschützen hätten sich in Richtung Ukraine bewegt, wo die ukrainische Seite ein „Fenster zur Überquerung der Grenze“vorbereitet hätte. Schon vorher hatten viele Experten in Moskau versichert, die USA wären zumindest eingeweiht gewesen.
In der Ukraine dagegen argwöhnt man, der Kreml veranstalte eine Provokation, wie er schon 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg mit in die Luft gejagten Wohnhochhäusern provoziert habe. Der Kiewer Politologe Igar Tyschkewitsch schrieb auf dem Portal Glawred, er wundere sich nicht, wenn
schon am Morgen eine ukrainische Spur entdeckt werde. „Oder sie töten einen der Angreifer und finden dann eine Visitenkarte des ukrainischen Geheimdienstschefs Kyrylo Budanow in seiner Hosentasche.“Danach werde Moskau etwas Hysterie veranstalten und weiter eine neue Mobilmachung.
Westliche Experten vermuten dagegen die Terrorgruppe Islamischer Staat hinter der Tat. Die im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet basierende IS-Gruppe Khorosan bekannte sich per Telegram zum Attentat, meldete Reuters. „Sie haben Zugang zu Russland und sie haben eine offene Rechnung“, bestätigte der amerikanische Russland-Fachmann David Satter dem TV-Kanal
Doschd. Moskau hätte eine wichtige Rolle bei der Rettung des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien vor der IS gespielt.
Für islamistischen Terrorismus spricht auch die Mitteilung des Weißen Hauses, es habe die russischen Behörden vorher über Anschlagspläne informiert. Schon zu Beginn des Monats veröffentlichte die US-Botschaft eine Reisewarnung an US-Bürger in Russland, wegen drohender Anschläge Menschenmengen und Großveranstaltungen zu meiden. Laut Satter basierte diese Warnung auf Informationen aus dem Nahen Osten. Hätten die russischen Sicherheitsorgane eine Provokation geplant, so wären die USA kaum im Bilde gewesen.
Russische Kommentatoren jedoch betrachten die Vorwarnung der Amerikaner als Indiz dafür, dass diese selbst in den Anschlag verwickelt seien. Vor allem aber zielen die russischen Verdächtigungen auf die Ukraine. In Kiew dagegen hält man das eigene Land als angebliches Fluchtziel der Terroristen für absurd. Das Grenzgebiet sei überfüllt mit Soldaten und Sicherheitsdienstlern, die Grenze selbst vermint, kommentierte Andrij Jussow, Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes gegenüber 24tv.ua.: „Um da in die Ukraine fliehen zu wollen, muss man schon ein absoluter Idiot oder lebensmüde sein.“