Die Passion in 7 Objekten
Wie Dornenkrone, 30 Silberlinge, Geißel, Lanze, Kelch, Kreuz und Grabtuch das Leiden und Sterben Jesu begreifbar machen. Teil I
Selbst innerhalb der christlichen Passionsgeschichte, die kein schönes Bild des Menschen zeichnet, macht diese Passage in ihrer Grausamkeit und Niedertracht betroffen. Ein zum Tod Verurteilter wird nicht einfach misshandelt, das Folterwerkzeug der Dornenkrone stellt zugleich den Tiefpunkt bösartiger gesellschaftlicher und psychischer Erniedrigung dar. Es sagt viel über die Deutungsmacht des Christentums aus, dass es diese Szene nicht gelöscht hat, sondern den Gegenstand der Demütigung und des Schmerzes zu einem der einprägsamsten ikonischen Objekte und der kostbarsten Reliquien hat werden lassen.
Wer den Spott und die Gemeinheit der Dornenkrone verstehen will, muss am heutigen Palmsonntag beginnen: Wenn Jesus auf einem Esel in Jerusalem einzieht und ihm die Menschen mit Palmwedeln zujubeln, dann ist er für viele zumindest kurzfristig der ersehnte „König der Juden“, der die römischen Besatzer davonjagen und eine glorreiche Herrschaft errichten wird. Die Inszenierung der römischen Soldaten keine Woche später ist doppelt boshaft: Sie macht die Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung zunichte, indem sie ihren vermeintlichen König mit einer blutigen Imitation der Herrschaftsinsignien lächerlich macht. Zugleich verspotten die Soldaten mit dieser „Krönung“zum König der Juden Jesus auch ganz persönlich: Schau dich an, du bist der König dieser Leute, die dich verraten haben. Der Kranz aus Dornen erinnert die Zeitgenossen Jesu und die ersten christlichen Leser an den Lorbeerkranz erfolgreicher römischer Feldherren, die schmerzenden Dornen erinnern an das klägliche Scheitern eines Traumes von Herrschaft. Die Dornenkrone ist mehr als ein simples Folterwerkzeug, sie steht für eine grausame Parodie von Macht und Herrschaft, in diesem simplen Gegenstand wird die Umkehrung von der Macht zur Ohnmacht, von der Herrschaft zum Ausgeliefertsein fassbar.
Die Ambivalenz dieses Objektes begleitet das Christentum bis in die Gegenwart. Schon die frühen theologischen Deutungen der ersten Jahrhunderte schwanken zwischen einer Betonung des Leidens, das Jesus an Körper und Seele für die Menschen auf sich genommen hat, und einer paradoxen Umdeutung der Dornenkrone zu einem Zeichen der wahren Königsherrschaft: Was die römischen Soldaten als Schmach und Folter gemeint haben, enthüllt denen, die es richtig zu lesen verstehen, die Überlegenheit des Folteropfers. Die Dornenkrone ist keine ge
wöhnliche goldene Krone, sondern eine einzigartige Krone, die Jesus als himmlischen Herrscher ausweist, der durch seine göttliche Souveränität einen Stab in ein Szepter und stechende Dornen in eine Königskrone zu verwandeln vermag. Aus Ohnmacht wird in dieser Deutung wieder eine neue Form von Macht, aus scheinbarer Unterlegenheit entsteht durch die eigenständige Umdeutung eine neue, größere Souveränität.
Es ist dieser souveräne König, der seine Dornenkrone trägt wie eine aus Gold, scheinbar schmerz- und mühelos, der uns bereits auf einem christlichen Sarkophag auf dem Friedhof der Domitilla an der Via Ardeatina nahe Rom aus der Mitte des 4. Jahrhunderts begegnet: Entgegen der Erzählung im Matthäusevangelium ist Jesus hier in eine römische Toga gekleidet, die Haare sind kunstvoll in Locken gelegt, sein Blick entschlossen unbewegt, während ihm ein römischer Soldat ehrerbietig die Dornenkrone auf den Kopf setzt. Das einstige Folterinstrument ist in der Darstellung kaum mehr von einem edlen Diadem zu unterscheiden. Auch in der Buchmalerei des Frühmittelalters und an der Pala d’oro, dem Goldaltar im Aachener Dom, dominiert diese Art der königlichen Dornenkrone, die aus einer Parodie in erniedrigender Absicht wieder eine Königskrönung macht. Es darf daher nicht verwundern, dass die bekannteste Reliquie des biblischen Dornenkranzes auf den heutigen Betrachter nicht wie eine schmerzhafte Naturalie wirkt, sondern wie ein äußerst kostbarer Goldreif mit Edelsteinschmuck, in dem erst bei genauerem Hinsehen noch der pflanzliche Ursprung des so eingefassten Objekts sichtbar wird.
Ausgerechnet die Dornenkrone, in der doch die Hinfälligkeit, ja Lächerlichkeit irdischer Herrschaft so deutlich wird, faszinierte mittelalterliche Kronenträger: Der französische König
Ludwig IX., genannt der Heilige, kaufte sie dem lateinischen Kaiser von Konstantinopel, Balduin II., im Jahr 1238 um sehr viel Geld ab und machte sie zu einem zentralen Gegenstand frommer Verehrung in der unter ihm errichteten Sainte-Chapelle in Paris. Auch an anderen Orten, wie etwa im bayerischen Kloster Andechs, werden noch Zweige oder einzelne Dornen als Teile des Dornenkranzes Jesu aufbewahrt.
Und doch bleiben hinter all dem Goldglanz der Schmerz, das Blut und das Gefühl der Erniedrigung durch grundlose menschliche Niedertracht in den Gedanken der Gläubigen lebendig und brechen sich in ausdrucksstarken, ja extremen Darstellungen im Spätmittelalter Bahn. Wer die Malerei von Jörg Breu dem Älteren am Melker Altar aus 1502 betrachtet, wähnt sich in einem jener Folterbilder aus Abu Ghraib, die 2004 die Öffentlichkeit schockierten: Drei Schergen drücken die Krone mit den überlangen, spitzen Dornen mit zwei Stäben brutal auf den Kopf, während ein dritter mit einem Hocker auf das Opfer einprügeln will. Dieses und andere Bilder und Skulpturen aus den folgenden Jahrhunderten gehören zum Einprägsamsten, was die christliche Kunst zu bieten hat, sie zoomen gleichsam das Leiden unter dem Blut, Spott und Schmerz der Dornenkrone ganz nah heran, machen uns unwillkürlich zu Mitleidenden. Die Dornenkrone ist ein bis heute vielfach künstlerisch überformtes Objekt der christlichen Passion, nicht selten wird sie, wie in den mittelalterlichen Reliquiaren, von ihrem Träger gelöst präsentiert oder schneidet als Stacheldraht in das blutige Haupt. Ihre Mehrdeutigkeit, die den Raum zum Nachdenken über königliche Macht und menschliche Ohnmacht eröffnet, beschäftigt uns bis heute.
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