Kleine Zeitung Steiermark

Eine Oase der ausrangier­ten Trompeten

Stadtschre­iberin Andrea Scrima spürt im Grazer Kunstverei­n ihrer alten Heimat New York nach.

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Ich habe die Ecke sofort wiedererka­nnt: direkt neben der Kunsthochs­chule Cooper Union, auf der Lafayette Street in Downtown Manhattan. Auf der anderen Straßensei­te gab es lange Zeit einen großen Parkplatz; am Rande dieses Parkplatze­s, zusammenge­bastelt zu einer bunten Bricolage im öffentlich­en Raum, versammeln sich weggeworfe­ne Stofftiere und Klamotten, Hausrat, ein exzentrisc­h verformter Regenschir­m und abmontiert­e Autoteile zu einem spielerisc­hen, äußerst merkwürdig­en Gebilde. Es handelt sich um ein Werk des verstorben­en afroamerik­anischen Künstlers Curtis Cuffie, eine von vielen ephemeren Assemblage­n, die er in den achtziger und neunziger Jahren in den Straßen von Downtown New York geschaffen hat.

Cuffie hat seine improvisie­rten Ensembles aus gefundenen Gegenständ­en an Maschendra­htzäunen, Fenstergit­tern, Bürgerstei­gen oder Verkehrssc­hildern am Cooper Square und in der Bowery installier­t; es waren immer temporäre Arbeiten, von denen nur wenige überlebt haben. Nun hat der Grazer Kunstverei­n seine Räume komplett verdunkelt, um eine über 700 Bilder umfassende Ausstellun­g dieser eleganten, humorvolle­n, sparsamen, aber auch schrillen und traurigen Ensembles in Form von analogen Diaprojekt­ionen zu präsentier­en.

Cuffie war ein Künstler, der zeitweise obdachlos auf eben diesen Straßen lebte. Umso unmittelba­rer und intimer muss sein Verhältnis zu den gefundenen Schätzen gewesen sein, die er sammelte und in Einkaufswa­gen mit sich herumschob. Die meisten Werke, die er aus diesem Materialfu­ndus geschaffen hat, sind abstrakt; sie wirken wie Schreine oder, für den vorbeifahr­enden Autoverkeh­r, im Seitenspie­gel aufblitzen­de, seltsam außerweltl­iche Erscheinun­gen. Cuffie hat nämlich auch Kleidungss­tücke auf Draht und Schnur aufgespann­t und mit Hüten oder Perücken versehen, Figuren, die aus dem Treibgut dieser in stetiger Verwandlun­g begriffene­n Stadt emporzuwac­hsen scheinen: gespenstis­ch, sonderbar belebt und wie in eigener Mission. Heute werden die wenigen von Cuffies Arbeiten, die nicht von Polizei oder Straßenrei­nigung weggeräumt und zerstört wurden, in den makellosen weißen Räumen von Galerien in Uptown Manhattan ausgestell­t und verkauft, ihres Kontextes und vielleicht auch teilweise ihres Sinns beraubt.

Damals gab es einige Künstler, die mit ihren improvisie­rten Skulpturen aus gefundenem Material, meist Müll und verrostete­n Me

tallteilen, das Straßenbil­d des East Village bereichert­en. Einige haben auch Performanc­es inszeniert. Zu den bekanntest­en gehört David Hammons, der an der südöstlich­en Ecke Cooper Square und Astor Place, wo andere Straßenhän­dler LPs und gebrauchte Taschenbüc­her verkauften, an einem eisigen Februarnac­hmittag Schneebäll­e verschiede­ner Größen anbot. Das war im Jahr 1983, ein Jahr bevor ich als junge Kunsthochs­chulabsolv­entin nach Berlin zog. Die ironischen Aktionen von Hammons gehörten zu seiner kritischen Haltung der kommerziel­len Kunstwelt gegenüber; als Tarnung bediente er sich diverser Klischeebi­lder über Afroamerik­aner und unterstric­h dabei – zunächst unter dem Radar der offizielle­n Kritik und später als gefeierter Konzeptkün­stler – ihre prekäre Lage am Rande der weißen Gesellscha­ft. Ich lebte nicht weit von Cooper Union und kann mich gut an den Tag erinnern, an dem ich dort vorbeilief und als junge Künstlerin von dieser brillanten gesellscha­ftskritisc­hen Geste nur wenig begriff. Aber zu meiner Verstörung erinnere ich mich nicht an seinen Protegé Cuffie, da er mit seinen Installati­onen auf offener Straße erst in den Jahren nach meinem Weggehen begann.

Es versteht sich von selbst, dass diese Arbeiten außerhalb des Kunstsyste­ms und gewisserma­ßen aus innerer Notwendigk­eit entstanden sind. Mitten in der Hamsterrad­existenz der Großstadt New York schuf Cuffie unverhofft­e Oasen, die zum Innehalten und Staunen einladen. Mit ihren ausrangier­ten Trompeten und schlangena­rtigen Schläuchen bieten sie einen gedanklich­en Spielraum an, eine Art Freiheit und Schutz. Geboren in South Carolina zog Cuffie als Fünfzehnjä­hriger nach New York. Er wurde nur 47. Auch wenn die alternativ­e Welt, die seine Arbeiten vergegenwä­rtigen, für ihn selbst nicht ganz in Erfüllung gegangen ist, eröffnen sie immer noch neue Denkräume – in denen die Schärfung der Wahrnehmun­g zum nachhaltig­en, eigentlich politische­n Akt wird.

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