„Ich erzähle Dinge, die manchen nicht gefallen“
Deutschlands streitbarster Bürgermeister Boris Palmer über seinen Bruch mit den Grünen, den Umgang mit rechten Parteien, Grenzen für Asyl und Widerstand gegen absurde Vorschriften.
Die EU hat sich nach langem Ringen auf ein Asylpaket geeinigt. Findet es Ihre Zustimmung?
Absolut. Ich finde es großartig, dass die EU endlich eine gemeinsame Haltung gefunden hat. Den Status quo durch Unterlassen weiter zu zementieren, wäre falsch. Die Leute ertrinken im Mittelmeer. Viele, die ankommen, haben kein Schutzrecht. Und wenn sie kriminell werden, dürfen sie trotzdem bleiben. Dass man an der Grenze überprüft, ob jemand ein Recht hat, zu kommen, ist so einfach und klar, dass ich gar nicht weiß, was man da dagegen haben soll.
Der erwartete Erfolg rechter Parteien bei den EU-Wahlen setzt die Politik unter Zugzwang?
Man könnte auch argumentieren, dass der Problemdruck so groß geworden ist. Es geht einfach nicht mehr. Aber ich will nicht in Abrede stellen, dass die Politik den Fehler macht, die Probleme so lange zu beschwichtigen, bis sich die Rechten dieser angeeignet haben und es dann noch schwerer wird, etwas zu machen.
Bei der Kommunalwahl im Juni tritt die AfD in Tübingen nicht an. Ist das Ihr Erfolg, weil Sie Themen der AfD gekapert haben, oder liegt es daran, dass Tübingen eine linksliberale Studentenstadt ist? Der Hauptgrund ist, dass es eine Universitätsstadt ist, in der die
AfD schwer einen Fuß auf den Boden kriegt. Mir wurde ja fast ein Jahrzehnt vorgeworfen, dass meine Politik der AfD die Leute zutreibt. Weil ich, so heißt es, rechte Narrative nacherzähle.
Das tun Sie doch, oder?
Wenn im Stadtpark schwarze Leute mit Drogen handeln, sage ich das. Ich sage, dass es nicht in Ordnung ist und dass wir was dagegen machen müssen. Meine Kritiker meinen, man müsse das beschweigen. Sobald man das Problem anspricht, mache das die AfD stark.
Die Kritiker stört eher, dass Sie verallgemeinern würden.
Das sagen manche. Aber die Hauptforderung lautet: Schweige darüber, dann wird es besser. Wenn jetzt die AfD in Tübingen keinen Kandidaten zustande bringt, spricht mehr für meine Theorie, dass es hilfreich ist, die Probleme anzusprechen und zu lösen.
Der Vorwurf, dass Sie der AfD den Weg bereiten würden, kam ja von Ihrer eigenen Partei, den Grünen, denen Sie bis vor einem Jahr angehörten.
Das ist einer der Gründe, warum wir uns getrennt haben. Da haben wir uns auseinanderentwickelt. Aber der Vorwurf kommt auch aus vielen Medien in Deutschland, der Linkspartei und der SPD. Einer der Gründe, warum Sahra Wagenknecht eine eigene Partei aufgemacht hat. Man kann Dinge auch für richtig halten, obwohl die AfD sie anspricht. Ich glaube, man muss es sogar.
Haben die etablierten Parteien diese Probleme zu lange negiert? Migrationsprobleme sollten, wenn überhaupt, nur heimlich gelöst werden. Nach außen hin sollte die Idee der Vielfalt und Willkommenskultur gegen Kritik immunisiert werden. Probleme durfte man nicht ansprechen, sonst war man ein Schmuddelkind oder Wegbereiter der AfD, Rassist oder Nazi.
In Österreich sagt man, die Wähler gehen zum Schmied, nicht zum Schmiedl, vom Thematisieren der Migrationsprobleme profitiere vor allem die FPÖ.
Der Grundfehler ist, dass man taktisch und nicht inhaltlich argumentiert. Solange ich nur darüber rede und dann nichts mache, treibt es natürlich den Rechten die Wähler zu.
Wie gefährlich ist Ihre Gratwanderung: Probleme zu benennen, ohne dabei Gefahr zu laufen, Stereotype zu bedienen?
Die ist sehr gefährlich. Sie sprechen ja mit jemandem, der von dem Grat abgestürzt ist.
Wie gehen Sie damit um, als Rassist bezeichnet zu werden? Früher hat mich das furchtbar aufgeregt, weil der Begriff in der Nähe der NS-Vernichtungsmaschinerie steht. Für mich ist das entsetzlich. Aber mittlerweile ist der Begriff inhaltsleer geworden.
Sind Sie ein Populist? Populistisch wird es ja erst dann, wenn ich Dinge erzähle, die ich selber nicht glaube. Das bin ich auf keinen Fall. Ich erzähle nur Dinge, die manchen nicht gefallen, weil sie vielen Bürgern gefallen.
Sie legen sich als WokenessKritiker gerne mit linken Meinungsbildern an.
Ich will auch eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber ich glaube, dass diese Methoden genau das Gegenteil bewirken. Im Grundgesetz steht, öffentliche Ämter werden nach Leistung, Eignung und Befähigung vergeben. Wenn jetzt Leute sagen, Positionen, Einfluss, Macht und Ämter sollen nach Hautfarbe, Herkunft und Vorliebe vergeben werden, treibt man die Gesellschaft auseinander.
Muss man über die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte reden?
Ich halte die Erklärung der Menschenrechte für ewig gültig, dazu gehört auch das Asylrecht in seinem Kern: Schutz vor Tod, Verfolgung, Misshandlung. Nach diesem Asylrecht wird in Deutschland nur etwa ein Prozent aller Anträge anerkannt. Die meisten fliehen vor Armut. Sehr menschlich und sehr legitim. Aber ein Menschenrecht auf Wohlstand gibt es bisher nicht. Wer nur aus wirtschaftlicher Not kommt und für unsere Wirtschaft keinen Beitrag leisten kann, den müssen wir zurückweisen.
Betreiben Sie kalkulierte Tabubrüche?
Ein langweiliger Vorwurf und eine weit verbreitete Methode, sich der inhaltlichen Diskussion zu entziehen.
Sie sind einer der bekanntesten
Bürgermeister Deutschlands. Wann geht es auf die größere Politikbühne?
Das wird nicht mehr passieren. Zum einen fühle ich mich da, wo ich bin, sehr, sehr wohl. Und zum anderen liegt es auch an der Art, wie ich Politik mache. Die Parteien halten das kaum aus, wenn da jemand seinen eigenen Weg geht, seinen eigenen Kopf hat.
War Ihr Rückzug von den Grünen vor einem Jahr ein persönlicher Befreiungsschlag?
Es schmerzt, weil man nach 27 Jahren fast wie in einer Familie zusammengehört. Aber ich glaube, dass es richtig war, weil ich Freiheit zurückgewonnen habe. Der Zuspruch der Leute ist für mich überraschend eher größer geworden.
Die Ampelkoalition ist bemerkenswert unpopulär. Wird sie unter Wert geschlagen?
Ich bedauere das sehr. Ich hatte ja auch Hoffnungen mit dieser Koalition verbunden. Die Hälfte der Erklärung ist: Die haben eine Zeit mit gigantischen Problemen erwischt. Und die andere Hälfte ist, dass sie sich auf nichts einigen können und jeder dem anderen seine Projekte kaputtmacht.
Ist es vorstellbar, dass Sie bei Sahra Wagenknechts Bündnis andocken?
Nein, wir sind uns fast vollständig einig in der Bewertung der Migrationspolitik und der Genderpolitik. Aber wir haben große Differenzen, vor allem bei der Umweltpolitik. Sie versucht zum Beispiel, die Windkraftgegner einzusammeln. Da bin ich nicht kompromissfähig.
Sie sagten einmal, im Arbeitsalltag eines Tübinger Oberbürgermeisters müsse man oft Vorschriften übergehen, weil sie mit der Wirklichkeit kollidieren. Es brauche „den kontrollierten Gesetzesbruch“.
Meinten Sie das ernst?
Das ist richtig zitiert. Zuerst klingt es ja absurd, dass man im Rathaus die Gesetze zurechtbiegen muss. Aber zumindest in Deutschland sind es so viele, dass die sich gegenseitig widersprechen. Ich mache keinen Irrsinn, nur weil irgendeiner seine Vorschriftenverliebtheit gekränkt sieht. Ermahnung, öffentliche Diskreditierung, Protestschreiben vom Datenschutzbeauftragten sind mir dann wurscht. Ich hör immer dann auf, wenn es um Strafrecht geht.
Geben Sie uns ein Beispiel?
Das Tübinger Uniklinikum braucht dringend eine Baugenehmigung, die würde ich gerne unterschreiben, darf ich aber nicht, weil dann käme ich ins Gefängnis. Denn Ornithologen haben ein Exemplar eines streng geschützten Vogels auf den Dächern des Klinikums gefunden. Solange der kein Ausweichquartier gebaut bekommen hat – dafür müssten zehn Hektar Wald abgeholzt werden, damit der Vogel Auslauf hat –, darf nicht gebaut werden. Da hört es bei mir auf. Jetzt versuchen die Behörden für den Vogel einen Totenschein auszustellen. Der wurde nämlich seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen. Es besteht gute Hoffnung, dass den die Katze erwischt hat. Dann dürfen wir vielleicht die Klinik bauen.