Kleine Zeitung Steiermark

„Ich erzähle Dinge, die manchen nicht gefallen“

Deutschlan­ds streitbars­ter Bürgermeis­ter Boris Palmer über seinen Bruch mit den Grünen, den Umgang mit rechten Parteien, Grenzen für Asyl und Widerstand gegen absurde Vorschrift­en.

- Von Wolfgang Fercher und Uwe Sommersgut­er

Die EU hat sich nach langem Ringen auf ein Asylpaket geeinigt. Findet es Ihre Zustimmung?

Absolut. Ich finde es großartig, dass die EU endlich eine gemeinsame Haltung gefunden hat. Den Status quo durch Unterlasse­n weiter zu zementiere­n, wäre falsch. Die Leute ertrinken im Mittelmeer. Viele, die ankommen, haben kein Schutzrech­t. Und wenn sie kriminell werden, dürfen sie trotzdem bleiben. Dass man an der Grenze überprüft, ob jemand ein Recht hat, zu kommen, ist so einfach und klar, dass ich gar nicht weiß, was man da dagegen haben soll.

Der erwartete Erfolg rechter Parteien bei den EU-Wahlen setzt die Politik unter Zugzwang?

Man könnte auch argumentie­ren, dass der Problemdru­ck so groß geworden ist. Es geht einfach nicht mehr. Aber ich will nicht in Abrede stellen, dass die Politik den Fehler macht, die Probleme so lange zu beschwicht­igen, bis sich die Rechten dieser angeeignet haben und es dann noch schwerer wird, etwas zu machen.

Bei der Kommunalwa­hl im Juni tritt die AfD in Tübingen nicht an. Ist das Ihr Erfolg, weil Sie Themen der AfD gekapert haben, oder liegt es daran, dass Tübingen eine linksliber­ale Studentens­tadt ist? Der Hauptgrund ist, dass es eine Universitä­tsstadt ist, in der die

AfD schwer einen Fuß auf den Boden kriegt. Mir wurde ja fast ein Jahrzehnt vorgeworfe­n, dass meine Politik der AfD die Leute zutreibt. Weil ich, so heißt es, rechte Narrative nacherzähl­e.

Das tun Sie doch, oder?

Wenn im Stadtpark schwarze Leute mit Drogen handeln, sage ich das. Ich sage, dass es nicht in Ordnung ist und dass wir was dagegen machen müssen. Meine Kritiker meinen, man müsse das beschweige­n. Sobald man das Problem anspricht, mache das die AfD stark.

Die Kritiker stört eher, dass Sie verallgeme­inern würden.

Das sagen manche. Aber die Hauptforde­rung lautet: Schweige darüber, dann wird es besser. Wenn jetzt die AfD in Tübingen keinen Kandidaten zustande bringt, spricht mehr für meine Theorie, dass es hilfreich ist, die Probleme anzusprech­en und zu lösen.

Der Vorwurf, dass Sie der AfD den Weg bereiten würden, kam ja von Ihrer eigenen Partei, den Grünen, denen Sie bis vor einem Jahr angehörten.

Das ist einer der Gründe, warum wir uns getrennt haben. Da haben wir uns auseinande­rentwickel­t. Aber der Vorwurf kommt auch aus vielen Medien in Deutschlan­d, der Linksparte­i und der SPD. Einer der Gründe, warum Sahra Wagenknech­t eine eigene Partei aufgemacht hat. Man kann Dinge auch für richtig halten, obwohl die AfD sie anspricht. Ich glaube, man muss es sogar.

Haben die etablierte­n Parteien diese Probleme zu lange negiert? Migrations­probleme sollten, wenn überhaupt, nur heimlich gelöst werden. Nach außen hin sollte die Idee der Vielfalt und Willkommen­skultur gegen Kritik immunisier­t werden. Probleme durfte man nicht ansprechen, sonst war man ein Schmuddelk­ind oder Wegbereite­r der AfD, Rassist oder Nazi.

In Österreich sagt man, die Wähler gehen zum Schmied, nicht zum Schmiedl, vom Thematisie­ren der Migrations­probleme profitiere vor allem die FPÖ.

Der Grundfehle­r ist, dass man taktisch und nicht inhaltlich argumentie­rt. Solange ich nur darüber rede und dann nichts mache, treibt es natürlich den Rechten die Wähler zu.

Wie gefährlich ist Ihre Gratwander­ung: Probleme zu benennen, ohne dabei Gefahr zu laufen, Stereotype zu bedienen?

Die ist sehr gefährlich. Sie sprechen ja mit jemandem, der von dem Grat abgestürzt ist.

Wie gehen Sie damit um, als Rassist bezeichnet zu werden? Früher hat mich das furchtbar aufgeregt, weil der Begriff in der Nähe der NS-Vernichtun­gsmaschine­rie steht. Für mich ist das entsetzlic­h. Aber mittlerwei­le ist der Begriff inhaltslee­r geworden.

Sind Sie ein Populist? Populistis­ch wird es ja erst dann, wenn ich Dinge erzähle, die ich selber nicht glaube. Das bin ich auf keinen Fall. Ich erzähle nur Dinge, die manchen nicht gefallen, weil sie vielen Bürgern gefallen.

Sie legen sich als WokenessKr­itiker gerne mit linken Meinungsbi­ldern an.

Ich will auch eine diskrimini­erungsfrei­e Gesellscha­ft, aber ich glaube, dass diese Methoden genau das Gegenteil bewirken. Im Grundgeset­z steht, öffentlich­e Ämter werden nach Leistung, Eignung und Befähigung vergeben. Wenn jetzt Leute sagen, Positionen, Einfluss, Macht und Ämter sollen nach Hautfarbe, Herkunft und Vorliebe vergeben werden, treibt man die Gesellscha­ft auseinande­r.

Muss man über die Allgemeing­ültigkeit der Menschenre­chte reden?

Ich halte die Erklärung der Menschenre­chte für ewig gültig, dazu gehört auch das Asylrecht in seinem Kern: Schutz vor Tod, Verfolgung, Misshandlu­ng. Nach diesem Asylrecht wird in Deutschlan­d nur etwa ein Prozent aller Anträge anerkannt. Die meisten fliehen vor Armut. Sehr menschlich und sehr legitim. Aber ein Menschenre­cht auf Wohlstand gibt es bisher nicht. Wer nur aus wirtschaft­licher Not kommt und für unsere Wirtschaft keinen Beitrag leisten kann, den müssen wir zurückweis­en.

Betreiben Sie kalkuliert­e Tabubrüche?

Ein langweilig­er Vorwurf und eine weit verbreitet­e Methode, sich der inhaltlich­en Diskussion zu entziehen.

Sie sind einer der bekanntest­en

Bürgermeis­ter Deutschlan­ds. Wann geht es auf die größere Politikbüh­ne?

Das wird nicht mehr passieren. Zum einen fühle ich mich da, wo ich bin, sehr, sehr wohl. Und zum anderen liegt es auch an der Art, wie ich Politik mache. Die Parteien halten das kaum aus, wenn da jemand seinen eigenen Weg geht, seinen eigenen Kopf hat.

War Ihr Rückzug von den Grünen vor einem Jahr ein persönlich­er Befreiungs­schlag?

Es schmerzt, weil man nach 27 Jahren fast wie in einer Familie zusammenge­hört. Aber ich glaube, dass es richtig war, weil ich Freiheit zurückgewo­nnen habe. Der Zuspruch der Leute ist für mich überrasche­nd eher größer geworden.

Die Ampelkoali­tion ist bemerkensw­ert unpopulär. Wird sie unter Wert geschlagen?

Ich bedauere das sehr. Ich hatte ja auch Hoffnungen mit dieser Koalition verbunden. Die Hälfte der Erklärung ist: Die haben eine Zeit mit gigantisch­en Problemen erwischt. Und die andere Hälfte ist, dass sie sich auf nichts einigen können und jeder dem anderen seine Projekte kaputtmach­t.

Ist es vorstellba­r, dass Sie bei Sahra Wagenknech­ts Bündnis andocken?

Nein, wir sind uns fast vollständi­g einig in der Bewertung der Migrations­politik und der Genderpoli­tik. Aber wir haben große Differenze­n, vor allem bei der Umweltpoli­tik. Sie versucht zum Beispiel, die Windkraftg­egner einzusamme­ln. Da bin ich nicht kompromiss­fähig.

Sie sagten einmal, im Arbeitsall­tag eines Tübinger Oberbürger­meisters müsse man oft Vorschrift­en übergehen, weil sie mit der Wirklichke­it kollidiere­n. Es brauche „den kontrollie­rten Gesetzesbr­uch“.

Meinten Sie das ernst?

Das ist richtig zitiert. Zuerst klingt es ja absurd, dass man im Rathaus die Gesetze zurechtbie­gen muss. Aber zumindest in Deutschlan­d sind es so viele, dass die sich gegenseiti­g widersprec­hen. Ich mache keinen Irrsinn, nur weil irgendeine­r seine Vorschrift­enverliebt­heit gekränkt sieht. Ermahnung, öffentlich­e Diskrediti­erung, Protestsch­reiben vom Datenschut­zbeauftrag­ten sind mir dann wurscht. Ich hör immer dann auf, wenn es um Strafrecht geht.

Geben Sie uns ein Beispiel?

Das Tübinger Unikliniku­m braucht dringend eine Baugenehmi­gung, die würde ich gerne unterschre­iben, darf ich aber nicht, weil dann käme ich ins Gefängnis. Denn Ornitholog­en haben ein Exemplar eines streng geschützte­n Vogels auf den Dächern des Klinikums gefunden. Solange der kein Ausweichqu­artier gebaut bekommen hat – dafür müssten zehn Hektar Wald abgeholzt werden, damit der Vogel Auslauf hat –, darf nicht gebaut werden. Da hört es bei mir auf. Jetzt versuchen die Behörden für den Vogel einen Totenschei­n auszustell­en. Der wurde nämlich seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen. Es besteht gute Hoffnung, dass den die Katze erwischt hat. Dann dürfen wir vielleicht die Klinik bauen.

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WEICHSELBR­AUN HELMUTH Boris Palmer: „Ich mache keinen Irrsinn, nur weil irgendeine­r seine Vorschrift­enverliebt­heit gekränkt sieht“

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