Den Kollaps verstehen
Komplexe Systeme und die Wissenschaft der Katastrophen
Es ist möglich, einen Kollaps wissenschaftlich zu verstehen, zu berechnen und letztlich sogar bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen. Prof. Stefan Thurner
Alles, was ist, vergeht. Viele Systeme vergehen spektakulär, sie kollabieren. Und das, obwohl sie auf den ersten Blick stabil erscheinen. „Der Kollaps eines Systems hat oft katastrophale Auswirkungen für Millionen von Menschen, etwa wenn das Finanzsystem, ein Ökosystem, das Gesundheits- oder Pensionssystem zusammenbricht“, so der Komplexitätsforscher Prof. Stefan Thurner von der Medizinischen Universität Wien.
„Kollaps“hat meist mit den Netzwerken zu tun, die die Einzelteile eines Systems verbinden und zusammenhalten. Wenn man weiß, wie diese Netzwerke aussehen, kann man nicht nur darauf schließen, wie die Systeme funktionieren bzw. wie effizient sie sind, sondern auch warum und wie sie zusammenbrechen.
„So verschieden Ökosysteme und Finanzsysteme auch sind, ihr Kollaps läuft oft sehr ähnlich ab, er ist systematisch. Dadurch wird es möglich, einen Kollaps wissenschaftlich zu verstehen, zu berechnen und letztlich sogar bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen“, erklärt Prof. Thurner. Die Komplexitätsforschung versucht die Komplexität von Systemen auf Basis ihrer Netzwerke zu verstehen, um – unter anderem – einen Kollaps zu vermeiden. Die Grundlage der Komplexi- tätsforschung sind Daten, meist große Datenmengen (Neudeutsch: Big Data). Aus diesen werden Netzwerke berechnet, die dann mathematisch auf ihre Effizienz, Widerstandsfähigkeit und Stabilität analysiert werden. Das funktioniert nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von Mathematik, Datascience, Natur- und Sozialwissenschaften.
Prof. Thurner und seine Mitarbeiter studieren z. B. Netzwerke von Krankheiten und die Verhältnisse im Gesundheitssystem. So können Krankheitsverläufe vorhergesagt und Patientenströme gemessen werden. Künftig soll das ganze Gesundheitssystem in einem riesigen Computermodell simuliert werden, um so objektive und nützliche Entscheidungshilfen für Patienten, Ärzte und Politiker zu schaffen. Ein weiteres Feld sind Finanznetzwerke, die Prof. Thurner studiert, um herauszufinden, wie man das Kollapsrisiko des Finanzsystems reduzieren kann. „Mit der Vermeidung einer einzelnen Bankenkrise könnte man 1000 Spitzenforscher 100 Jahre bezahlen“, gibt Thurner zu bedenken.
Mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) und der EU sind hier bereits einige Durchbrüche gelungen.