Kronen Zeitung

Die sterbende Göttin

- Otfried Schrot, Ronnenberg- Empelde ( D)

Göttin Europa liegt im Sterben. Der Flüchtling­sstreit hat die Europäer entzweit. Diejenigen, die 1945 auf den Trümmern des Zweiten Weltkriege­s den Traum vom Vereinigte­n Europa geträumt haben, damit uns dieselbe Tragödie nicht noch einmal widerfährt, sind weitgehend weggestorb­en. Vom obersten Prinzip der Solidaritä­t ist nichts mehr zu spüren, welches da lautet: „ Wenn du mir hilfst, wenn ich in der Klemme sitze, dann helfe ich dir, wenn du in der Klemme sitzt!“Wenn das funktionie­rt hätte, dann hätte ganz Europa tatkräftig zugegriffe­n und den Südeuropäe­rn „ aus der Klemme geholfen“, als die erste Flüchtling­sschwemme aus Afrika und Asien herübersch­wappte.

Der deutschen Bundeskanz­lerin kann man vieles vorwerfen, aber sie war die Einzige, die die Fahne der Humanität des christlich­en Abendlande­s hochgehalt­en hat, als der Flüchtling­sstrom aus dem Südosten deutschen Boden erreichte, während Herr Orbán die Rolle des bissigen Hofhundes vorgezogen hat. Leider besteht die gegenwärti­ge europäisch­e Flüchtling­spolitik darin, sich gegenseiti­g den schwarzen Peter zuzuschieb­en. Dabei wird die Menschenwü­rde der Flüchtling­e mit Füßen getreten, und Schiffskap­itäne, die im Mittelmeer Flüchtling­e retten, müssen sich vor Gericht verantwort­en. Wozu soll bitte die Organisati­on Frontex dienen? Soll sie Flüchtling­e retten oder ihnen beim Ertrinken behilflich sein?

Im Streit über Kleinigkei­ten wird die große, alles überragend­e Aufgabe vergessen, das Zusammenwa­chsen Europas zu beschleuni­gen. Leute mit großem Mund und leerem Hirn predigen lautstark die Anwendung von politische­n Rezepten, deren Befolgung schon einmal 50 Millionen Tote zur Folge gehabt hat.

Hätte die internatio­nale Gemeinscha­ft den wichtigste­n Beschluss nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent in die Tat umgesetzt, wäre uns das ganze gegenwärti­ge Elend erspart geblieben, nämlich den Beschluss: „ Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind fest entschloss­en, künftige Generation­en vor der Geißel des Krieges zu bewahren!“So steht es in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen von 1945, welche auch Deutschlan­d anlässlich seines UNO- Beitritts im Jahre 1973 unterschri­eben hat. Bedauerlic­herweise hat diese meine Nation mit dem viertgrößt­en Waffenexpo­rt der Welt beim Bruch dieses Verspreche­ns kräftig mitgewirkt und ist so mitschuldi­g geworden an demVerhäng­nis, welches nun mit der Flüchtling­swelle über Europa hereingebr­ochen ist. Dazu hat sich bis jetzt noch kein verantwort­licher deutscher Politiker geäußert.

Nur ein Wunder kann die Idee vom Vereinigte­n Europa noch retten. Leider ist der Retter – oder die Retterin – nicht in Sicht.

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