„Wer Kritik übt, muss auch Selbstkritik üben“
Analyse. Soziologe Kenan Güngör sieht Muslime und Mehrheitsgesellschaft gleichsam gefordert
Die Zahl Kopftuch-tragender Musliminnen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Sah man früher vor allem ältere Frauen mit Kopftuch in der Öffentlichkeit, bekennen sich mittlerweile auch immer mehr jüngere, „verwestlichte“Frauen auf diese Weise zu ihrer Religion. Die Motive sind vielfältig. Dass Musliminnen das Kopftuch nur unter Druck tragen, stimme jedenfalls nicht, sagt der kurdisch-türkischstämmige Soziologe Kenan Güngör.
Viele Faktoren spielen eine Rolle: Ein gesteigertes Selbstbewusstsein gläubiger Muslime, der globale Trend zur Selbstinszenierung oder auch gelebte Tradition. „Das Bedürfnis nach Verwurzelung ist gerade bei Migranten ein gesteigertes.“Das Kopftuch fungiere da als Identitätsund Abgrenzungsmarker.
Zwischen den Extrempolen – dem „Zwang“-Argument, das Kritiker gern bemühen, und der von der Linken hochgehaltenen Freiwilligkeit – gebe es viele Nuancen. Etwa den sozialen Druck im Freundeskreis, wo ein Nicht-Tragen des Kopftuchs als unehrenhaft empfunden wird. Jugendliche Musliminnen würden das Kopftuch beispielsweise aber auch tragen, um sich vor Annäherungsversuchen zu schützen.
Herausforderungen
In einem Punkt stimmt Güngör mit Wiens ÖVP-Chef Gernot Blümel überein: Mit den Flüchtlingsströmen kommen massive Herausforderungen auf Europa zu. Wenn es um das Rollenverständnis von Mann und Frau geht, um Religiosität im Alltag und in öffentlichen Institutionen oder auch um die Kindererziehung. „Friktionen und Irritationen werden zunehmen“, sagt der Experte für Integrations- und Diversitätsfragen.
Das Kopftuch, das nach Güngörs Einschätzung nicht einmal 30 Prozent der Musliminnen in Österreich tragen, sorgt jedenfalls schon längst für Irritationen. Wie berichtet, stellte Blümel ein Verbot im öffentlichen Raum zur Diskussion Dazu der Soziologe: „Es ist ein Riesen-Unterschied, ob mir etwas missfällt oder ob ich es verbiete. Anstatt die Diskussion mit Migranten zu führen, werden seitens der Mehrheitsgesellschaft Ge- und Verbote schnell zum ersten Mittel.“
Das sei aber ebenso wenig hilfreich wie „Islam-Versteher“, die selbst religionsfern oder religionskritisch sind, in der Kopftuch-Debatte aber nicht hinterfragen, sondern bloß pauschal verteidigen.
„Teil der Wahrheit“
„Muslime, die sagen, das Tragen des Kopftuchs sei ,individuelle Freiheit‘ blenden aber ebenfalls einen Teil der Wahrheit aus“, sagt Güngör.
Denn es gehe um das Normalitätsverständnis einer Gesellschaft – „einerseits wollen Frauen nicht auf das Kopftuch reduziert werden, andererseits tragen sie ein sichtbares starkes Zeichen und fallen dadurch natürlich auf. Zu glauben, niemand merkt das und man muss nicht darüber diskutieren – das funktioniert nicht. Zumal das eine Gesellschaft ist, in der Religiosität im öffentlichen Raum massiv rückgängig ist.“
Ein Diskurs sei in einer demokratischen Gesellschaft zwar legitim, müsse aber respektvoll geführt werden, meint Güngör. „Wer Kritik üben will, muss auch Selbstkritik üben. Sonst führt das zu Selbstgerechtigkeit. Das ist der Mehrheitsgesellschaft genauso vorzuwerfen wie den Muslimen selbst.“