Kurier

Anders? Nein! Besonders? Ja!

Alles geht. Silke Naun-Bates verlor ihre Beine, aber nicht ihre Lebensfreu­de. ’ie Geschichte einer mutigen Frau

- VON JULIA PFLIGL

ie meisten Menschen mit einem ähnlichen Schicksal würden sich vermutlich im Bett verkrieche­n, depressiv werden und die Welt verfluchen. Aber Silke Naun-Bates denkt nicht daran. ’ie 48-Jährige lacht nach jedem zweiten Satz laut auf, ihre Augen strahlen, während sie ihre Geschichte erzählt. „Besonders bin ich, anders nicht“, sagt die zweifache Mutter, und tatsächlic­h: Im Gespräch vergisst man rasch, dass der Frohnatur etwas für uns so Selbstvers­tändliches fehlt – ihre Beine.

Schuld ist ein Unfall, der sich im Jahr 1976 ereignete, als Silke acht Jahre alt war. Sie hatte gerade einen Hund bekommen, Richie, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. An jenem Tag stürmte Richie bei einem Spaziergan­g auf die Bahngleise – Silke lief hinterher, um ihn zu retten. Und übersah, dass ein Güterzug auf sie zuraste. Schnitt.

Wochen später erwachte die Achtjährig­e im Krankenhau­s aus ihrem künstliche­n Koma – mit einer Vorahnung: „Ich wusste sofort, was los war. Ich schaute hinunter zu meinen Beinen und sah einen Hügel‘ unter der ’ecke. ’as war eine Art Korb für mein Becken. Zur Bestätigun­g sah ich nach: Meine Beine waren weg.“’er erste Gedanke galt den Eltern. „Ich dachte sofort: Ich muss es ihnen sagen.“Natürlich wussten sie es längst. „Mein Vater hat mir später erzählt, dass ich lächelnd im Krankenbet­t lag, als er zu mir ins Zimmer kam. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon‘, habe ich zu ihm gesagt.“

Weg zurück

Ihre Zuversicht und positive Einstellun­g halfen ihr, das Handicap nach mehreren Monaten Spitals- und Rehaaufent­halt in den Alltag zu integriere­n. Silke bekam einen Rollstuhl, lernte aber auch, wie man sich mit den Händen fortbewegt. Und sie durfte zurück in ihre alte Klasse – was in den Siebzigerj­ahren nicht selbstvers­tändlich war und für die Schülerin „einen großen Unterschie­d gemacht hat“: „Ich habe mich rasch wieder integriert und mich nie anders‘ gefühlt. Behinderun­g entsteht für mich erst dann, wenn wir das, was uns fehlt, als Mangel oder Hindernis bewerten.“

Silke, ihre Familie, ihre Freunde taten das nie. Andere schon. Nach dem Unfall gab es eine Gerichtsve­rhandlung, in der dem Mädchen eine Teilschuld zugesproch­en wurde – noch schlimmer fand Silke aber, was in den Akten über sie stand: nicht heiratsfäh­ig, ein lebenslang­er Pflegefall, Arbeit oder eigene Kinder undenkbar. „Beruflich hat sich dann relativ bald herausgest­ellt, dass doch was geht“, erzählt Naun-Bates. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Bürokauffr­au, heute ist sie in der Jugendund Erwachsene­nbildung tätig und gibt Seminare. Und auch die Sache mit der Kinderlosi­gkeit entpuppte sich als Irrtum.

Kinderwuns­ch

„Bis ich 21 war, war ich davon überzeugt, dass ich nicht schwanger werden kann. Mir wurde gesagt, dass alle Organe entfernt wurden“, erinnert sich die 48-Jährige. „Als ich geheiratet habe, fragte mich mein Arzt, ob ich denn keine Kinder wolle. Aus seiner Sicht wäre es nämlich sehr wohl möglich.“’ie Experten an der Uni-Klinik rieten dennoch ab: zu hoch sei das Risiko, dass das Narbengewe­be durch die ’ehnung reißen könnte. „Ich fragte: Hatten Sie so einen Fall schon einmal?‘ Hatten sie nicht. ’ann wurde ich schwanger. Ich hatte keine Angst, ich habe einfach gespürt, dass es gut gehen wird.“Sowohl ihre Tochter Samantha als auch ihr Sohn Pascal wurden in der 35. Woche per Kaiserschn­itt geholt und sind heute glückliche Erwachsene. ’ass ihre Mutter „besonders“ist, hat sie nie gestört. „Für die Kinder war meine Behinderun­g immer Normalität. Manchmal waren sie genervt, weil im Kindergart­en immer wieder dieselben Fragen kamen. ’ie anderen Kinder fanden es cool, wie ich Auto fahre oder auf den Händen laufe.“

Nur die Blicke im Supermarkt machten die beiden manchmal wütend. Silke selbst hat Verständni­s für Neugierige: „’ass Menschen schauen, wenn etwas außergewöh­nlich ist, ist normal. ’as tu ich ja auch“, lacht sie. „Bei den ganz Penetrante­n kommt von mir aber schon einmal so ein Satz wie Schauen kostet fünf Euro.‘ “

Frei sein

Bis heute, sagt Naun-Bates, habe sie mit ihrer Behinderun­g kein einziges Mal gehadert. „Ich habe die Probleme in meinem Leben nie damit gekoppelt.“Und davon gab es einige: eine schwierige Beziehung zur Mutter (die 2011 gestorben ist), den Krebstod der Schwester, der tödliche Unfall des Neffen, mehrere Todesfälle im Freundeskr­eis, eine Scheidung. ’er Titel ihres neuen Buches – „Mein Weg in die Freiheit“– bezieht sich daher nicht auf die Behinderun­g, sondern auf die vielen anderen Schicksals­schläge. „Frei sein bedeutet für mich, dass man die Erlebnisse aus der Vergangenh­eit loslässt. Freiheit ist ein innerer Zustand, den man in jeder Situati- on haben kann. Nelson Mandela ist da ein gutes Beispiel: Er war in seiner Gefangensc­haft freier als die meisten Menschen.“

’ie Freiheit genießt Silke Naun-Bates mit ihrem Mann, den sie 2009 geheiratet hat. „Er hatte selber einen schweren Arbeitsunf­all und war in einem meiner Kurse. Meine Behinderun­g war nie ein Thema.“’ie beiden pendeln zwischen ’eutschland und der Kanarenins­el El Hierro. Ihren fixen Job hat sie aufgegeben. „Für viele war diese Entscheidu­ng unverständ­lich. Als Behinderte hat man nicht zu kündigen.“Mut, ist die Blondine überzeugt, muss man nicht lernen, sondern wiederfind­en. „Ich habe ein tiefes Vertrauen in die ’inge, die passieren. Was soll schon sein? ’as Leben ist ein Abenteuer und das darf es auch gerne bleiben.“Jedes Erlebnis habe nur die Bedeutung, die man ihm beimisst, sagt Silke Naun-Bates. ’as gilt auch für ihren Unfall vor 39 Jahren: „Ich habe das Gefühl, dass mein Leben damit erst so richtig begonnen hat.“

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