Kurier

Mentale Verletzung­en zählen mehr als körperlich­e

Flüchtling­s-Psyche. Bis zu 40 Prozent der Kinder haben mentale Schäden erlitten / Auf Therapie warten sie oft lange

- – CHRISTIAN BÖHMER

Wenn Flüchtling­e bitterkalt­e Nächte in beheizten Zelt zubringen, dann stellt man sich als Beobachter schnell die Frage: Wie lange dauert es wohl, bis diese Menschen schwer erkranken und kraft ihrer Zahl zum gesundheit­spolitisch­en Risiko werden?

Helmut Brand ist der Mann, der solche Fragen beantworte­t. Der Deutsche ist Arzt und Inhaber der JeanMonnet-Professur für europäisch­e-öffentlich­e Gesundheit. Im konkreten Fall beruhigt der Experte. „Der durchschni­ttliche Europäer muss durch die Flüchtling­e keine größeren Infektione­n fürchten“, sagt Brand, nebstbei auch Präsident des Europäisch­en Gesundheit­sforums Gastein. „Das Immunsyste­m der Österreich­er funktionie­rt zumeist besser als das der geschwächt­en Zuwanderer.“Großflächi­ge Seuchen seien kein realistisc­hes Szenario.

Ganz generell ist die körperlich­e Gesundheit der Zuwanderer für Brand ohnehin nicht die große Herausford­erung. „Physische Traumata wie Unterernäh­rung sind nach wenigen Monaten behoben. Auch wissen wir, dass es einen ,Healthy-MigrantEff­ekt‘ gibt.“Dieser meint, dass nur diejenigen eine Flucht antreten, die sie auch überleben. „Alte und Schwache gehen erst gar nicht los.“

Die wirkliche Herausford­erung seien die geistigen Traumata der Flüchtling­e. Brand: „Wir wissen, dass bei Fluchtbewe­gungen etwa 20 bis 40 Prozent der Kinder mentale Schäden erleiden. Kinder, die stumm sind, die schlecht schlafen und idealerwei­se schnell eine therapeuti­sche Hilfe bekommen – das ist das echte Thema.“

Also ein großflächi­ger Ausbau der psychother­apeutische­n Einrichtun­gen?

Man könnte meinen, Peter Stippl würde diese Forderung unterstütz­en, immerhin ist er Präsident des Psychother­apeutenver­bandes.

Laut Stippl braucht es aber gar nicht mehr Personal: „Wir sind mit 8000 Therapeute­n gut aufgestell­t in Österreich.“Stippl war selbst im Sommer in Nickelsdor­f im Einsatz, er hat nicht den Ein- druck, „dass wir bei den Flüchtende­n sehr aufwendige Behandlung­en in hoher Zahl benötigen“.

Angesichts der langen Wartezeite­n auf Therapiepl­ätze plädiert Stippl aber für niederschw­ellige Hilfe. „Zuwanderer müssen aufgrund des benötigten Dolmetsche­rs oft mehr als ein Jahr auf einen Therapiepl­atz warten. Hier wäre viel erreicht, wenn wir in Flüchtling­sheimen flächendec­kend Diskussion­srunden mit profession­eller Betreuung einrichten.“Oft genüge ein Termin pro Woche. „Das klingt nach wenig, bedeutet für die Betroffene­n aber, dass sie überhaupt einmal ankommen können.“

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Stippl: „Flächendec­kende Diskussion­srunden in Heimen“
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Brand: „Flüchtling­e bedeuten kein erhöhtes Infektions­risiko“

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