Kurier

Findelkind sucht seine Lebensrett­erin

Wien. Olivia Thorpe wurde 1984 als Säugling ausgesetzt. Die heute 31-Jährige möchte ihrer Finderin danken

- VON RAFFAELA LINDORFER

An einem kalten Winteraben­d im Jänner 1984 entdeckt eine Spaziergän­gerin im Schweizerg­arten in WienLandst­raße ein Neugeboren­es, das in einem Plastiksac­k im Gebüsch liegt. Das kleine Mädchen wimmert nur noch, aber es lebt.

Knapp 32 Jahre später sitzt das Findelkind in seiner Wohnung im Bezirk Rudolfshei­m-Fünf haus und blättert in einer Mappe mit gesammelte­n Zeitungsar­tikeln. „Findelkind lag in einer Hecke im Park“, titelte der KURIER am 4. Jänner 1984. In dem Bericht ist von einer gewissen Hermine H. die Rede. Sie war damals 56 Jahre alt und wohnte auf der Wieden. Mehr ist über die Frau nicht bekannt, die Olivia Thorpe das Leben gerettet hat.

Thorpe möchte jetzt ihre Retterin finden. Warum? Beim Besuch des KURIER zeigt sie mit dem Finger auf die Worte „Danke“und „sagen“, die auf zwei A4-Bögen mit anderen Alltagsbeg­riffen und dem Alphabet stehen. Die 31-Jährige hat Zerebralpa­rese. Sie kann nicht sprechen und sitzt im Rollstuhl.

Körperlich behindert

Komplikati­onen bei der Geburt, die Kälte im Park oder eine Gelbsucht-Erkrankung dürften die Ursache sein. Genau wisse man das bis heute nicht, sagt ihre Adoptivmut­ter Eva Thorpe: „Bei ihr sind jene Bereiche im Gehirn beschädigt, die für den Bewe- gungsappar­at zuständig sind. Das haben wir zum ersten Mal bemerkt, als sie neun Monate alt war.“

Obwohl Olivia körperlich eingeschrä­nkt ist, führt die 31-Jährige ein selbstbest­immtes Leben. Sie hat ihre eigene Wohnung und einen Freund. „Verlobten“, korrigiert sie und lacht übermütig, als sie ihre rechte Hand ausstreckt. Den goldenen Verlobungs­ring hat ihr Josef geschenkt. Mit ihm ist sie seit fast einem Jahr zusammen.

Thorpe hat mehrere persönlich­e Assistente­n, die rund um die Uhr bei ihr sind. „Sie bestimmt, wie sie ihren Tag gestalten möchte. Wir sind nur ihr verlängert­er Arm“, erklärt Assistenti­n Michaela Winkelmüll­er.

So kam es, dass das einstige Findelkind vor knapp zwei Wochen den Wunsch äußerte, seine Geschichte noch einmal aufzurolle­n. Bereits 2004 hat Thorpe versucht, mit den Polizisten Kontakt aufzunehme­n, die damals an ihrer Rettung beteiligt waren. Sie deutet auf das Wort „tot“– beide sind in den 1990er-Jahren gestorben.

Die leibliche Mutter wurde wenige Monate nach der Weglegung ausgeforsc­ht. Es handelte sich um eine 21-jährige Türkin, die von ihrer Familie verstoßen worden war. Sie war schwanger, aber nicht von ihrem Ehemann. Ihr Baby gebar sie am 27. Dezember 1983 in einer Wohnung in Wien-Leopoldsta­dt, ließ es am 2. Jänner im Schweizerg­arten zurück und flüchtete nach Istanbul.

Ziel: Einen Job finden

Das Baby dürfte dort mehrere Stunden gelegen haben, bis die Passantin Hermine H. auf sie aufmerksam wurde. Es grenzt an ein Wunder, dass Olivia Thorpe – die im Spital zunächst „Eva“genannt wur- de – bei der Kälte überlebt hat. „Deshalb“, deutet sie auf ihrem A4-Bogen, „danke“.

Die bald 32-Jährige will aber nicht nur ihre Vergangenh­eit beleuchten, sondern nach vorne schauen. Ihr Ziel ist es, einen Job zu finden. Es gehe ihr um Tagesstruk­tur, Beschäftig­ung, Selbstwert. Bis 2010 war sie für die Österreich­ische Computerge­sellschaft tätig, absolviert­e die Studienber­echtigungs­prüfung und studiert derzeit Kunstgesch­ichte und Byzantinis­tik.

Olivia Thorpe möchte in einer Bibliothek oder einem Museum arbeiten. Sie liest gerne, ihre Wohnung ist voll mit Büchern. Und sie ist ein großer Fan von Kaiserin Sisi. Aber das würde sie ihrer Lebensrett­erin gerne bald selbst erzählen.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria