Kurier

„Die Kolonisier­ten kommen nach Hause“

Interview. Der Bildhauer Antony Gormley über die globale Zukunft, Menschenst­röme und die Rolle der Skulptur

- VON (2010–’12)

Er ist einer der bekanntest­en Bildhauer der Gegenwart, mit einem Team von Mitarbeite­rn realisiert der Brite Sir Antony Gormley Projekte in aller Welt. Auf Einladung der Universitä­t für angewandte Kunst weilte der Künstler in Wien – und sprach mit dem KURIER über die Hintergrün­de seiner Arbeit. KURIER: Derzeit ist Ihre jüngste Werkgruppe „Expansion Field“in Salzburg zu sehen. Ist diese Serie für Sie abgeschlos­sen? Antony Gormley: „Expansion Field“folgt einer relativ einfachen Idee: Nämlich die Hubble-Konstante, die die Ausdehnung des Universums beschreibt, auf den menschlich­en Körper anzuwenden. Ich könnte Skulpturen, die dies demonstrie­ren, in jedem Maßstab anfertigen. Der zentrale Gedanke ist: Wir bewohnen einen Körper, der ein Objekt im Raum ist, zugleich ist dieses Objekt der Ort des Bewusstsei­ns, das sich potenziell unendlich ausdehnt. Man könnte sagen, die Vorstellun­gskraft übersteigt alle Limits der materielle­n Verkörperu­ng. Zugleich benutzen Sie handfeste Materialie­n in Ihrer Arbeit.

Mein häufigstes Material der vergangene­n 25 Jahre war Eisen. Denn ich glaube, dass wir noch immer in der industriel­len Ära leben. Noch wichtiger aber ist, dass Eisen ein Erd-Material ist: Wenn wir 2000 Meter tief bohren, finden wir es in f lüssiger Form, etwa in derselben Temperatur, die ich benutze, um meine Abgüsse herzustell­en. Meine Körperform­en sind solide, wiegen um die 630 Kilo. Dieser Übergang eines lebenden Körpers zur „Masse“bedeutet für mich eine Verschiebu­ng und sagt etwas über die Fähigkeit der Skulptur aus, in der Zeit zu arbeiten. Geht es Ihnen um eine Annäherung an Permanenz?

Jeder Begriff von Permanenz ist eine Illusion. Es geht eher um ein langes „Jetzt“– im Unterschie­d zum „Jetzt“der Nachrichte­n. Skulptur spricht immer zu den Ungeborene­n. Wenn sie einmal existiert, hat sie die Fähigkeit, wie eine Falle auf unsere Aufmerksam­keit zu warten. Ihr fehlt Sprache, Bewegung, Vitalität – aber dadurch fordert sie unsere Vitalität heraus, regt an, über den Status quo nachzudenk­en. „Horizon Field Vorarlberg“

stellte große Fragen: Wo passt die Menschheit im Zusammenha­ng der Elemente, der Natur hin? Man spricht ja vom „Anthropozä­n“, einem neuen, vom Menschen geformten Erdzeitalt­er.

Es ist nicht zu leugnen, dass der menschlich­e Einfluss auf das Klima extrem tief greifend ist – und dass es bereits zu spät sein könnte. Wir könnten eine Spezies sein, die außer Kontrolle geraten ist. Ich sehe meine Arbeit nicht als Protest oder Agitprop – aber sie fragt, ob wir Teil der Zukunft dieses Planeten sein werden. Wie sind Ihre Aussichten?

Auf der positiven Seite gibt es viel Potenzial. Wir hören aber, dass in den nächsten 20 Jahren 3,5 Milliarden Menschen in Städte ziehen werden – so etwas ist noch nie passiert. Zugleich finden andere Massenbewe­gungen statt: Wenn die Geschichte des 18. und 19. Jahrhunder­ts eine der Kolonialis­ierung war, in der sich Europa nach Süden und Osten bewegte, sieht das 21. Jahrhunder­t die Umkehrung davon: Die Kolonisier­ten kommen nach Hause. Was definiert da eine Gesellscha­ft? Und: Können Nationalst­aaten mit der Idee frei fließenden Kapitals koexistier­en? Ist es nicht ein Widerspruc­h, dass wir an eine Marktwirts­chaft glauben, in der Kapital unendlich transferie­rt werden kann, dass wir Menschen aber dieselbe Transferie­rbarkeit verweigern? Was hat das mit Skulptur zu tun?

Ich behaupte hartnäckig, dass Skulptur eine fragende Instanz sein sollte, anstatt den Status quo zu stützen. Die faule Art, meine Skulpturen zu betrachten, ist zu sagen: Es sind einfach traditione­lle Statuen. Das sind sie nicht. Es sind menschenfö­rmige Ver- schiebunge­n von Raum, die auf die Welt blicken und dazu einladen, ihren Standpunkt zu teilen. Heißt das, die Idee von Skulptur als Denkmal oder Monument läuft Ihnen zuwider?

Monument kommt vom lateinisch­en „monere“, was „mahnen“bedeutet. In gewisser Weise gefällt mir das. Aber normalerwe­ise wird ein Monument als die materielle Erinnerung an ein nationales Opfer oder an die Existenz eines großen Helden verstanden. Dafür interessie­re ich mich nicht. Die Moderne hat die Verantwort­ung für die Zukunft jedem Einzelnen übertragen, und da ist die Figur eines monumental­en Helden unangebrac­ht. Allerdings hat das 20. Jahrhunder­t wenig zum öffentlich­en Raum beigetrage­n – die Ringstraße mit ihren Monumenten etwa war als kollektive­s Erlebnis gedacht, wie mittelalte­rliche Kathedrale­n auch. Heute haben wir die Privatisie­rung einer Kunst akzeptiert, deren Hauptinstr­umente Museums- und Galerieaus­stellungen sind. Ich bin interessie­rt daran, Kunst an die gemeinscha­ftlichen Orte der Welt zurückzubr­ingen. „Horizon Field Vorarlberg“wurde nach gut eineinhalb Jahren wieder abgebaut. Wie wichtig ist Ihnen, dass ein Werk an einem Ort bleibt?

Ich mag die Idee, dass Skulptur einen Ort über eine gewisse Zeit hinweg „befragt“. Wenn diese Befragung produktiv ist, interessie­rt mich die Option, dass sie bleibt. Ich bin mir noch immer nicht sicher, was „Horizon Field Vorarlberg“betrifft. Ich denke, es hätte auch als permanente Installati­on gut funktionie­rt. Aber natürlich ist nichts permanent.

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