Die Kunst der Würfel, ohne Zucker
Ausstellungen. Die geometrische Ader in Österreichs Kulturgeschichte wird im Belvedere soeben wiederentdeckt
Es ist eine Umwälzung im Gange. Vordergründig ist es vielleicht Zufall, dass sich heuer auffallend viele Ausstellungen in Österreich mit geometrischer Kunst auseinandersetzen – doch die Zeit war mehr als reif dafür.
Denn die Ausstellungen werfen nicht bloß neues Licht auf einige scheinbare Gewissheiten der akademischen Kunstgeschichte, sie rütteln auch am kulturellem Image des Landes: Dass es der Österreicher gern hübsch und dekorativ und ein wenig schlampig habe, dass man strenge Konzepte sozusagen nur in der WienerschnitzelPanier genießen könne, wird sowohl von Einheimischen als auch von Beobachtern anderswo gern geglaubt. Doch das Bild könnte auch ein ganz anderes sein.
Ecken & Kanten
Ebenso schlüssig wie leidenschaftlich erklärt dies die Schau „Klimt, Kupka, Picasso und andere – Formkunst“, die bis 19.6. im Unteren Belvedere zu sehen ist. Kurator Alexander Klee verfolgt hier das Ziel, einen „Kulturraum zu beschreiben“, wie er sagt: In den Ländern der einstigen Donaumonarchie gab es nämlich eine einheitliche, klare Formsprache, die quer durch die Bevölkerungsschichten begriffen wurde.
Klee führt das gemeinsame Bildvokabular maßgeblich auf den Zeichenunterricht zurück, der ab 1870 in den Volksschulen der Monarchie verpflichtend eingeführt worden war. Bei den Lehrplänen orientierte man sich an den Ideen des Philosophen Johann Friedrich Herbart (1776–1841), der in der Rückführung künstlerischer Darstellungen auf Geometrie und Mathematik eine „Vergewisserung der Welt und ihrer Ordnung“sah.
Dreiecke, Quadrate und sonstige Bausteine waren damit weniger Ornament als Ausdruck einer Geisteshaltung – eine Sektion mit Spielzeug aus der Zeit um 1900 illustriert in der Ausstellung schön, wie diese in alle Lebensbereiche durchsickerte.
„Würferl-Hoffmann“
Nicht nur der in Mähren geborene Josef Hoffmann, den die populäre Rezeption später zum „Würferl-Hoffmann“verniedlichen sollte, zehrte von dieser Formensprache – auch Klimt, Schiele und weitere Mitglieder der Wiener Secession bauten auf rationalen Form- und Konstruktionslehren auf.
Ein Künstler wie Picasso, der in Frankreich vergleichsweise isoliert den Kubismus entwickelte, sei für die Österreicher ein „offenes Buch“gewesen, erklärt Klee. In der Schau mischt er einige Gemälde und Plastiken des Spaniers – darunter das wunderbare „Bildnis Fernande Olivier“von 1909 – mit zeitnah entstandenen Werken weitaus weniger bekannter Künstler, etwa der Tschechen Bohumil Kubišta und Josef Čapek.
Bei letzterem durfte ein in geometrische Flächen aufgelöster Männerkörper auch Schamhaare bekommen – die Künstler, die die Sprache rei- ner Formen von der Schulbank mitgenommen hatten, agierten weniger puristisch als Kollegen wie Wassily Kandinsky, die heroisch behaupteten, die Bürde des Gegenständlichen ein für allemal abgeschüttelt zu haben.
Erlernbare Systeme
Dem Geniekult der Kunstgeschichte entgegenzuwirken, ist erklärtes Ziel von Kurator Klee: Wenn abstrakt-geometrische Kunst nicht vergeistigt, sondern systematisiert und erlernbar ist, verliert sie auch ihre Unnahbarkeit.
Ausstellungen, die parallel im 21er Haus und in der Kunsthalle Krems
zu sehen sind, zeigen exemplarisch aktuelle Fortsetzungen der geometrisch-abstrakten Tradition. Man wird sich daran gewöhnen müssen: Die Liebe zu Dreieck und Quadra t ist den Österreichern näher, als man jemals dachte.