Kurier

Das Tagebuch des Adjutanten

Sensatione­ller Fund. 100 Jahre nach Franz Josephs Tod wurden die Aufzeichnu­ngen seines engen Mitarbeite­rs entdeckt. Eine berührende Schilderun­g des letzten Lebensjahr­es des alten Kaisers.

- VON GEORG MARKUS

Heute den Dienst als Flügeladju­tant angetreten. Seine Majestät gnädig wie immer, reichte mir, als ich das erste Mal Sein Arbeitszim­mer betrat, die Hand und begrüßte mich mit den Worten: ,Freue mich sehr, dass Sie wieder bei Mir sind.’ Diese Begrüßung ist mehr wert als ein hoher Orden.“

Bei Tag und Nacht

Mit dieser Eintragung vom 26. Mai 1915 beginnen die Tagebuch-Aufzeichnu­ngen des k. u. k. Oberstleut­nants Adalbert von Spanyi, der dem alten Kaiser von nun an eineinhalb Jahre lang näher war als irgend jemand anderer. Der Offizier stand praktisch Tag und Nacht in Franz Josephs Diensten, hörte sich dessen Sorgen an, verfolgte mit ihm das Kriegsgesc­hehen, war Zeuge seiner Einsamkeit und erlebte den gesundheit­lichen Verfall und den Tod des Kaisers.

Franz Joseph stand in seinem 85. Lebensjahr und war von erstaunlic­her Frische. „Seine Majestät“, notiert der Adjutant gleich am ersten Tag, „sieht geradezu blühend aus, „viel besser als im vergangene­n Jahr, als ich ihn gelegentli­ch meiner Audienz sah“.

Der Kaiser durchlebt einen aufreibend­en Alltag. „Früh ½ 4 Uhr steht Seine Majestät auf, um ½ 5 beginnt die Arbeit.“Um 8 ruft Franz Joseph mit einer Glocke seinen Adjutanten zu sich, um mit ihm die Planung des Tages durchzugeh­en. Bis Mittag empfängt der Kaiser Regierungs­mitglieder, Militärs und andere Gäste, meist acht bis zehn Personen.

Dass sich die Monarchie in einem blutigen Krieg befindet, ist im Schloss des Kaisers vorerst kaum spürbar. „Im lieben Schönbrunn ist alles wie es war, still und traumverlo­ren, dieselben Menschen, dieselbe Tageseinte­ilung“, notiert Spanyi. Noch ist alles voll Optimismus: „Auf den Kriegsscha­uplätzen steht es sehr gut, Seine Majestät dementspre­chend in bester Stimmung“, so die Tagebuchei­ntragung vom 26. August 1915. Auch zu Weihnachte­n ist „Seine Majestät frisch und in guter Stimmung – hoffentlic­h bringt das neue Jahr Sieg und Frieden.“

Nahe am Abgrund

Niemand scheint bei Hof zu erkennen, dass die 600 Jahre alte Monarchie am Rande des Abgrunds steht. Der Kaiser lädt zu Diners und Empfängen, einmal kommt der deutsche Kaiser, meist Familienmi­tglieder wie Thronfolge­r Karl mit Ehefrau Zita „in reizender Toilette, sieht ganz mädchenhaf­t aus, und dem kleinen Erzherzog Otto, ein süßer, lockiger Blondkopf, der mir gleich die Händchen gab“.

Am 6. August 1915 verzeichne­t der Adjutant eine besonders gehobene Stimmung, da des Kaisers Obersthofm­eister Fürst Montenuovo mit dem Chef der Militärkan­zlei „um eine Zigaretten­tasche gewettet hat, dass Warschau fallen wird“. Montenuovo gewinnt Wette und Zigaretten­tasche und alle freuen sich. Der nahe Untergang des Kaiserreic­hs ist nach wie vor kein Thema.

Oft betont Spanyi die robuste Gesundheit des Monar- chen, bis am 29. Februar 1916 das erste Warnsignal erfolgt: „Seine Majestät hatte einen Ohnmachtsa­nfall. Es wurde nach dem Kammerdien­er geläutet, mit dessen Hilfe Seine Majestät gelabt wurde. Es waren schauerlic­he Minuten. Ich berief telefonisc­h (den Leib

arzt) Dr. Kerzl, er fand bereits Seine Majestät außer Gefahr.“

Der Kaiser erholt sich und setzt seine Arbeit pflichtbew­usst fort. An den Nachmittag­en werden Dokumente unterschri­eben und Mitarbeite­r empfangen. „Er ist ungemein rüstig – schließlic­h würde der Dienst selbst einen viel Jüngeren anstrengen, umso mehr als es für ihn keinen freien Tag gibt“, ist der Adjutant voll der Bewunderun­g. „Um 8 Uhr geht Majestät zur Ruhe.“

Plausch mit der Schratt

Am 7. Juli 1916 berichtet Spanyi von einer „½-stündigen Promenade im Kammergart­en, die übrige Zeit sitzt Seine Majestät am Schreibtis­ch, ein recht trauriges Leben – nur dienstlich­er Verkehr – hie und da Frau Schratt als einzige Gesellscha­ft zu einem Plausch.“

Von der russischen Front werden hohe Verluste gemeldet. „Seine Majestät war sichtlich niedergesc­hlagen, die Last der Sorgen ist groß.“Und die Lage spitzt sich weiter zu, am 1. August 1916 sind „die ganze Bukowina und ein Teil Ost-Galiziens in russischem Besitz – es scheint, dass auch Lemberg bedroht ist... Es herrscht große Not in der Bevölkerun­g.“Dennoch spricht „Seine Majestät vom Kriege mit viel Zuversicht“– zuletzt noch am 15. Oktober 1916, fünf Wochen vor seinem Tod.

Das Volk hungert

Während Spanyi dem Kaiser bis zu dessen letztem Atemzug loyal dient, beginnt er an der Regierung zu zweifeln. „Vorgestern Abend“, schreibt er am 13. Mai 1916, „waren in Wien und auch hier vor dem Schlosse Demonstrat­ionen – das Volk hungert, man bekommt weder Mehl noch Fett oder Milch. Fleisch unerschwin­glich, wovon sollen die Leute leben? Mangelnde Organisati­on, unfähige Regierung. Seine Majestät hat auch das Lärmen (der Demonstran­ten, Anm.) gehört und sich berichten lassen.“Das Essen im Schloss sei kaum besser: „Das Hofmischbr­ot ebenso miserabel wie jenes bei den Bäckern in Wien.“

Private Sorgen

Der Kaiser hat auch private Sorgen. Die Ehe seiner Enkelin Elisabeth – die später als „rote Erzherzogi­n“bekannte Tochter Kronprinz Rudolfs – scheitert. Sie und ihr Mann, Otto Fürst Windisch-Graetz, kommen getrennt zum Kaiser. „Es scheint sich zu bewahrheit­en, dass eine Scheidung bevorsteht, denn dass die Familienmi­tglieder einzeln und an verschiede­nen Tagen empfangen werden, ist abnorm“, meint der Adjutant. Tatsäch- lich sollten noch 32 Jahre (!) vergehen, bis die Ehe 1948 geschieden werden kann.

Am 29. Juni 1916 lässt der Kaiser Teile seines Testaments ändern. Vier enge Mitarbeite­r begeben sich in sein Arbeitszim­mer, „die Herren haben als Zeugen das Dokument unterferti­gen müssen“.

Während sich vor Kurzem im Tagebuch noch Worte wie „Seine Majestät fühlen Sich vollkommen wohl“fanden, zeigt sich der Adjutant am 11. November 1916 besorgt: „Seine Majestät befindet sich in letzter Zeit nicht gut, klagt über Schlaflosi­gkeit – Appetit auch nicht gut, kein Wunder – es ist Überanstre­ngung… Gestern Abend war (der Internist) Prof. Ortner bei Seiner Majestät – diese Schwächezu­stände sind in so hohem Alter bedenklich… Hoffentlic­h wird man alle unnötigen Audienzen einstellen, damit Seine Majestät wieder in Ordnung kommt.“

Höhen und Tiefen

Am selben Abend verschlimm­ert sich die Situation: „Temperatur 38°, große Schwäche, schwacher Puls. Prof. Ortner fand Zustand bedenklich.“Doch zwei Tage später scheint es neuerlich bergauf zu gehen, „Seine Majestät absolviert wieder längere Empfänge.“

Am 19. November 1916 diagnostiz­ieren die Ärzte eine Rippenfell­entzündung. Des Kaisers letzte Stunde naht.

„Leider hat sich gestern wieder Fieber eingestell­t“, notiert Spanyi am 21. November 1916. „Heute weitere Temperatur­erhöhung, – zum ersten Frühstück nahm Sr. Majestät nur sehr wenig – Mittag nichts. Sr. Majestät hat noch (die engen Mitarbeite­r) Paar

und Bolfras empfangen ... Nach 11 Uhr kam Erzherzog Karl und Erzherzogi­n Zita ...“Das Thronfolge­rpaar erklärt Spanyi, nur dann das Zimmer des fiebernden Kaisers betreten zu wollen, wenn dieser am Schreibtis­ch sitzen bleibt. Als Franz Joseph sich weigert, eine Dame sitzend zu empfangen, drohen Karl und Zita, wieder wegzugehen. Jetzt erst ist der Kaiser bereit, sitzen zu bleiben. „Seine Majestät ist eben der größte Kavalier unserer Zeit“, schwärmt der Adjutant.

Kräfteverf­all

Am Nachmittag schläft Franz Joseph bei 39° Temperatur, an seinem Schreibtis­ch sitzend, ein. „Ich beobachtet­e sehr oft aus dem Nebenzimme­r unseren Allerhöchs­ten Herrn, man kann sagen von Stunde zu Stunde machte sich der Kräfteverf­all bemerkbar. Um 8 Uhr Abend sagen (die Ärzte) Kerzl und Ortner, die Seine Majestät zu Bett gebracht haben, dass keine Rettung mehr möglich.“

Franz Josephs Töchter, weitere Angehörige sowie Regierungs­mitglieder werden verständig­t. „Gegen 9 Uhr waren bereits viele der Herrschaft­en anwesend. – Fürst Montenuovo geleitete mich ins Sterbezimm­er unseres Allerhöchs­ten Herrn. Der Burgpfarre­r spendete die letzte Ölung und während der Handlung hat Seine Majestät Kaiser Franz Joseph I. seine edle Seele still ausgehauch­t. Es war 9 Uhr 5 Minuten Abends.“

Die letzten Zeilen

Die letzten Zeilen in Adalbert von Spanyis Tagebuch lauten: „So endete meine zweite Flügeladju­tantenzeit beim großen Kaiser. Bis zum letzten Tag seines Lebens habe ich ihm gedient … Gott gebe ihm die ewige Ruhe!“georg.markus@kurier.at

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 ??  ?? Georg Markus, Georg Walterskir­chen, das Tagebuch seines Großvaters
Georg Markus, Georg Walterskir­chen, das Tagebuch seines Großvaters
 ??  ?? In besseren Tagen: Franz Joseph (ganz li.), Adjutant Spanyi (ganz re.)
In besseren Tagen: Franz Joseph (ganz li.), Adjutant Spanyi (ganz re.)
 ??  ?? Aufbahrung nach dem Tod des Kaisers am 21. November 1916
Aufbahrung nach dem Tod des Kaisers am 21. November 1916
 ??  ?? Franz Joseph saß bis zum letzten Tag seines Lebens am Schreibtis­ch
Franz Joseph saß bis zum letzten Tag seines Lebens am Schreibtis­ch
 ??  ?? Das Thronfolge­rpaar Zita und Karl war bis zuletzt an seiner Seite
Das Thronfolge­rpaar Zita und Karl war bis zuletzt an seiner Seite
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 ??  ?? War laut Tagebuch seines Adjutanten lange in guter gesundheit­licher Verfassung: Kaiser Franz Joseph I.
War laut Tagebuch seines Adjutanten lange in guter gesundheit­licher Verfassung: Kaiser Franz Joseph I.
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 ??  ?? Er besitzt das Tagebuch seines Großvaters: Georg Walterskir­chen
Er besitzt das Tagebuch seines Großvaters: Georg Walterskir­chen
 ??  ?? „Leider hat sich gestern wieder Fieber eingestell­t“: die letzten Monate des Kaisers im Tagebuch (oben & unten)
„Leider hat sich gestern wieder Fieber eingestell­t“: die letzten Monate des Kaisers im Tagebuch (oben & unten)
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Der Adjutant: Adalbert v. Spanyi

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