Das Tagebuch des Adjutanten
Sensationeller Fund. 100 Jahre nach Franz Josephs Tod wurden die Aufzeichnungen seines engen Mitarbeiters entdeckt. Eine berührende Schilderung des letzten Lebensjahres des alten Kaisers.
Heute den Dienst als Flügeladjutant angetreten. Seine Majestät gnädig wie immer, reichte mir, als ich das erste Mal Sein Arbeitszimmer betrat, die Hand und begrüßte mich mit den Worten: ,Freue mich sehr, dass Sie wieder bei Mir sind.’ Diese Begrüßung ist mehr wert als ein hoher Orden.“
Bei Tag und Nacht
Mit dieser Eintragung vom 26. Mai 1915 beginnen die Tagebuch-Aufzeichnungen des k. u. k. Oberstleutnants Adalbert von Spanyi, der dem alten Kaiser von nun an eineinhalb Jahre lang näher war als irgend jemand anderer. Der Offizier stand praktisch Tag und Nacht in Franz Josephs Diensten, hörte sich dessen Sorgen an, verfolgte mit ihm das Kriegsgeschehen, war Zeuge seiner Einsamkeit und erlebte den gesundheitlichen Verfall und den Tod des Kaisers.
Franz Joseph stand in seinem 85. Lebensjahr und war von erstaunlicher Frische. „Seine Majestät“, notiert der Adjutant gleich am ersten Tag, „sieht geradezu blühend aus, „viel besser als im vergangenen Jahr, als ich ihn gelegentlich meiner Audienz sah“.
Der Kaiser durchlebt einen aufreibenden Alltag. „Früh ½ 4 Uhr steht Seine Majestät auf, um ½ 5 beginnt die Arbeit.“Um 8 ruft Franz Joseph mit einer Glocke seinen Adjutanten zu sich, um mit ihm die Planung des Tages durchzugehen. Bis Mittag empfängt der Kaiser Regierungsmitglieder, Militärs und andere Gäste, meist acht bis zehn Personen.
Dass sich die Monarchie in einem blutigen Krieg befindet, ist im Schloss des Kaisers vorerst kaum spürbar. „Im lieben Schönbrunn ist alles wie es war, still und traumverloren, dieselben Menschen, dieselbe Tageseinteilung“, notiert Spanyi. Noch ist alles voll Optimismus: „Auf den Kriegsschauplätzen steht es sehr gut, Seine Majestät dementsprechend in bester Stimmung“, so die Tagebucheintragung vom 26. August 1915. Auch zu Weihnachten ist „Seine Majestät frisch und in guter Stimmung – hoffentlich bringt das neue Jahr Sieg und Frieden.“
Nahe am Abgrund
Niemand scheint bei Hof zu erkennen, dass die 600 Jahre alte Monarchie am Rande des Abgrunds steht. Der Kaiser lädt zu Diners und Empfängen, einmal kommt der deutsche Kaiser, meist Familienmitglieder wie Thronfolger Karl mit Ehefrau Zita „in reizender Toilette, sieht ganz mädchenhaft aus, und dem kleinen Erzherzog Otto, ein süßer, lockiger Blondkopf, der mir gleich die Händchen gab“.
Am 6. August 1915 verzeichnet der Adjutant eine besonders gehobene Stimmung, da des Kaisers Obersthofmeister Fürst Montenuovo mit dem Chef der Militärkanzlei „um eine Zigarettentasche gewettet hat, dass Warschau fallen wird“. Montenuovo gewinnt Wette und Zigarettentasche und alle freuen sich. Der nahe Untergang des Kaiserreichs ist nach wie vor kein Thema.
Oft betont Spanyi die robuste Gesundheit des Monar- chen, bis am 29. Februar 1916 das erste Warnsignal erfolgt: „Seine Majestät hatte einen Ohnmachtsanfall. Es wurde nach dem Kammerdiener geläutet, mit dessen Hilfe Seine Majestät gelabt wurde. Es waren schauerliche Minuten. Ich berief telefonisch (den Leib
arzt) Dr. Kerzl, er fand bereits Seine Majestät außer Gefahr.“
Der Kaiser erholt sich und setzt seine Arbeit pflichtbewusst fort. An den Nachmittagen werden Dokumente unterschrieben und Mitarbeiter empfangen. „Er ist ungemein rüstig – schließlich würde der Dienst selbst einen viel Jüngeren anstrengen, umso mehr als es für ihn keinen freien Tag gibt“, ist der Adjutant voll der Bewunderung. „Um 8 Uhr geht Majestät zur Ruhe.“
Plausch mit der Schratt
Am 7. Juli 1916 berichtet Spanyi von einer „½-stündigen Promenade im Kammergarten, die übrige Zeit sitzt Seine Majestät am Schreibtisch, ein recht trauriges Leben – nur dienstlicher Verkehr – hie und da Frau Schratt als einzige Gesellschaft zu einem Plausch.“
Von der russischen Front werden hohe Verluste gemeldet. „Seine Majestät war sichtlich niedergeschlagen, die Last der Sorgen ist groß.“Und die Lage spitzt sich weiter zu, am 1. August 1916 sind „die ganze Bukowina und ein Teil Ost-Galiziens in russischem Besitz – es scheint, dass auch Lemberg bedroht ist... Es herrscht große Not in der Bevölkerung.“Dennoch spricht „Seine Majestät vom Kriege mit viel Zuversicht“– zuletzt noch am 15. Oktober 1916, fünf Wochen vor seinem Tod.
Das Volk hungert
Während Spanyi dem Kaiser bis zu dessen letztem Atemzug loyal dient, beginnt er an der Regierung zu zweifeln. „Vorgestern Abend“, schreibt er am 13. Mai 1916, „waren in Wien und auch hier vor dem Schlosse Demonstrationen – das Volk hungert, man bekommt weder Mehl noch Fett oder Milch. Fleisch unerschwinglich, wovon sollen die Leute leben? Mangelnde Organisation, unfähige Regierung. Seine Majestät hat auch das Lärmen (der Demonstranten, Anm.) gehört und sich berichten lassen.“Das Essen im Schloss sei kaum besser: „Das Hofmischbrot ebenso miserabel wie jenes bei den Bäckern in Wien.“
Private Sorgen
Der Kaiser hat auch private Sorgen. Die Ehe seiner Enkelin Elisabeth – die später als „rote Erzherzogin“bekannte Tochter Kronprinz Rudolfs – scheitert. Sie und ihr Mann, Otto Fürst Windisch-Graetz, kommen getrennt zum Kaiser. „Es scheint sich zu bewahrheiten, dass eine Scheidung bevorsteht, denn dass die Familienmitglieder einzeln und an verschiedenen Tagen empfangen werden, ist abnorm“, meint der Adjutant. Tatsäch- lich sollten noch 32 Jahre (!) vergehen, bis die Ehe 1948 geschieden werden kann.
Am 29. Juni 1916 lässt der Kaiser Teile seines Testaments ändern. Vier enge Mitarbeiter begeben sich in sein Arbeitszimmer, „die Herren haben als Zeugen das Dokument unterfertigen müssen“.
Während sich vor Kurzem im Tagebuch noch Worte wie „Seine Majestät fühlen Sich vollkommen wohl“fanden, zeigt sich der Adjutant am 11. November 1916 besorgt: „Seine Majestät befindet sich in letzter Zeit nicht gut, klagt über Schlaflosigkeit – Appetit auch nicht gut, kein Wunder – es ist Überanstrengung… Gestern Abend war (der Internist) Prof. Ortner bei Seiner Majestät – diese Schwächezustände sind in so hohem Alter bedenklich… Hoffentlich wird man alle unnötigen Audienzen einstellen, damit Seine Majestät wieder in Ordnung kommt.“
Höhen und Tiefen
Am selben Abend verschlimmert sich die Situation: „Temperatur 38°, große Schwäche, schwacher Puls. Prof. Ortner fand Zustand bedenklich.“Doch zwei Tage später scheint es neuerlich bergauf zu gehen, „Seine Majestät absolviert wieder längere Empfänge.“
Am 19. November 1916 diagnostizieren die Ärzte eine Rippenfellentzündung. Des Kaisers letzte Stunde naht.
„Leider hat sich gestern wieder Fieber eingestellt“, notiert Spanyi am 21. November 1916. „Heute weitere Temperaturerhöhung, – zum ersten Frühstück nahm Sr. Majestät nur sehr wenig – Mittag nichts. Sr. Majestät hat noch (die engen Mitarbeiter) Paar
und Bolfras empfangen ... Nach 11 Uhr kam Erzherzog Karl und Erzherzogin Zita ...“Das Thronfolgerpaar erklärt Spanyi, nur dann das Zimmer des fiebernden Kaisers betreten zu wollen, wenn dieser am Schreibtisch sitzen bleibt. Als Franz Joseph sich weigert, eine Dame sitzend zu empfangen, drohen Karl und Zita, wieder wegzugehen. Jetzt erst ist der Kaiser bereit, sitzen zu bleiben. „Seine Majestät ist eben der größte Kavalier unserer Zeit“, schwärmt der Adjutant.
Kräfteverfall
Am Nachmittag schläft Franz Joseph bei 39° Temperatur, an seinem Schreibtisch sitzend, ein. „Ich beobachtete sehr oft aus dem Nebenzimmer unseren Allerhöchsten Herrn, man kann sagen von Stunde zu Stunde machte sich der Kräfteverfall bemerkbar. Um 8 Uhr Abend sagen (die Ärzte) Kerzl und Ortner, die Seine Majestät zu Bett gebracht haben, dass keine Rettung mehr möglich.“
Franz Josephs Töchter, weitere Angehörige sowie Regierungsmitglieder werden verständigt. „Gegen 9 Uhr waren bereits viele der Herrschaften anwesend. – Fürst Montenuovo geleitete mich ins Sterbezimmer unseres Allerhöchsten Herrn. Der Burgpfarrer spendete die letzte Ölung und während der Handlung hat Seine Majestät Kaiser Franz Joseph I. seine edle Seele still ausgehaucht. Es war 9 Uhr 5 Minuten Abends.“
Die letzten Zeilen
Die letzten Zeilen in Adalbert von Spanyis Tagebuch lauten: „So endete meine zweite Flügeladjutantenzeit beim großen Kaiser. Bis zum letzten Tag seines Lebens habe ich ihm gedient … Gott gebe ihm die ewige Ruhe!“georg.markus@kurier.at