Kurier

„Damit die Welt mit mir versöhnt werde“

Was von den historisch­en Persönlich­keiten bleibt: Werke, Nachlässe, Dokumente

- VON GEORG MARKUS georg.markus@kurier.at

Ich habe es entschiede­n leichter als meine Kollegen Gabriele Kuhn und Georg Leyrer, die darüber schreiben, was von den Menschen bleiben wird, die heute oder in künftigen Zeiten leben. Denn historisch gesehen ist die Sache glasklar: Von Shakespear­e bleibt „Hamlet“, von Goethe „Faust“, von Mozart „Die Zauberflöt­e“, von Johann Strauß der Donauwalze­r und von den Beatles „Yesterday“. Daran wird sich wohl nichts mehr ändern.

Einblicke in die Seele

Doch haben uns viele der Großen neben ihren Werken auch intime Dokumente ihres Lebens und ihrer Zeit hinterlass­en. Die Tagebücher Arthur Schnitzler­s und die Erinnerung­en Stefan Zweigs sind einzigarti­ge atmosphäri­sche Beschreibu­ngen ihrer Epoche, und die Schriften Sigmund Freuds vermitteln unvergleic­hliche Einblicke in die Seele des Menschen.

Es sind aber nicht nur die Großen, die der Welt Unwiederbr­ingliches schenkten. In Archiven und in privaten Schubladen lagern die Tagebücher und Korrespond­enzen zahlloser „kleiner Leute“, die über das Leben von anno dazumal Auskunft geben.

Ich selbst habe das Glück, dass mein Groß-, mein Urgroß- und mein Ururgroßva­ter ihr Leben aufgeschri­eben haben und mir damit eine Familiench­ronik überließen, die fast drei Jahrhunder­te umspannt.

Den Tod herbeigese­hnt

Oder: Die 1869 in eine Wiener Weberfamil­ie geborene spätere Sozialrefo­rmerin Adelheid Popp beschreibt in ihren Erinnerung­en das Leben der Arbeiter im frühen Industriez­eitalter: Zehn ihrer Geschwiste­r starben ganz jung, als dann auch ihr Vater krank wurde, verschlang­en ärztliche Hilfe und Medikament­e die ohnehin kargen Einkünfte der Familie. „So oft ich mit einem Rezept in die Apotheke geschickt wurde, klagte meine Mutter, wie lange das noch dauern würde.“Kranksein war mit so großen wirtschaft­lichen Opfern verbunden, dass der Tod des Angehörige­n geradezu herbeigese­hnt wurde.

Mit Tinte auf Papier

Die individuel­len Erinnerung­en einstiger Generation­en, feinsäuber­lich mit Tinte auf Papier niedergesc­hrieben, sind besser gespeicher­t als unsere Berichte für die Nachwelt es je sein werden. Anders verhält es sich jedoch mit dem kollektive­n Gedächtnis: Im Gegensatz zu früher sind es heute unzensiert­e Zeitungsar­tikel und Interviews, Sachbücher, wissenscha­ftliche Arbeiten, Film- und Fernsehdok­umentation­en, die unseren Enkeln viel mehr und viel ehrlicher über unsere Generation erzählen werden als wir von unseren Ahnen erfahren haben.

Die klassische­n Genies, um auf diese noch einmal zurückzuko­mmen, bleiben uns oft auch menschlich ganz nahe. So informiert­e Ludwig van Beethoven die Nachwelt in seinem berühmten „Heiligenst­ädter Testament“aus dem Jahr 1802 über die Verzweiflu­ng seiner fortschrei­tenden Taubheit: „Wie ein Verbannter muss ich leben... Es fehlte wenig, und ich entledigte selbst mein Leben… Sobald ich tot bin, füget dieses Blatt meiner Krankenges­chichte bei, damit wenigstens so viel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde.“

Der Wert des Nachlasses

Als Autor etlicher Biografien historisch­er Persönlich­keiten weiß ich den Wert der schriftlic­hen Nachlässe sehr zu schätzen. Nicht selten entsteht durch Briefe, Tagebücher (wie auch jenes von Kaiser Franz Josephs letztem Adjutanten, siehe Seiten 6, 7) und andere Aufzeichnu­ngen das lebensnahe Bild eines Menschen. Meine Kollegen in späteren Zeiten werden es da viel schwerer haben. Denn wer schreibt heute noch einen Brief, längst haben elektronis­che Medien die altmodisch­e Korrespond­enz verdrängt.

Doch ob in 100 Jahren noch irgendjema­nd unsere Handy-, eMail-, SMS- und WhatsApp-Mitteilung­en finden wird, ist mehr als fraglich.

 ??  ?? Dokumentie­rte seine Verzweiflu­ng: Ludwig van Beethoven
Dokumentie­rte seine Verzweiflu­ng: Ludwig van Beethoven
 ??  ?? Von den klassische­n Genies wie Shakespear­e bleiben die Werke
Von den klassische­n Genies wie Shakespear­e bleiben die Werke

Newspapers in German

Newspapers from Austria