Kurier

Signalgebe­r für Seelenzust­ände

Aufregend und aufschluss­reich: Ausstellun­g zum Bildhauer Johann Georg Pinsel

- VON MICHAEL HUBER

Fragmente und Ruinen haben immer schon fasziniert, im Verständni­s der modernen Skulptur ist das Bruchstück­hafte spätestens seit Auguste Rodin ein Grundbesta­ndteil. Mag sein, dass die Werke des Bildhauers Johann Georg Pinsel, die nun erstmals in einer konzentrie­rten Schau im Winterpala­is gezeigt werden, deshalb mit so viel mehr Wucht ins Mark treffen, als es Barockskul­pturen normalerwe­ise tun.

Krieg und Umbruch

Zugleich ist es zynisch, sich den muskulösen Heldenfigu­ren, den gequälten Heiligen und den verzweifel­t dreinblick­enden Engeln mit derselben Schaulust zu nähern, mit denen man sich im Internet etwa durch Bilder von Industrier­uinen aus Detroit klickt: Die Holzskulpt­uren, die teilweise als Grabschmuc­k in der Erde vergraben waren oder in verfallend­en Kirchen dem Vergessen preisgegeb­en waren, erzählen auch die Geschichte ihrer Region, der heutigen Ukraine, sie erzählen von Krieg und Umbruch.

In diesem Sinn funktionie­ren die rund 250 Jahre alten Werke auch als Kommentar zum 20. Jahrhunder­t. In ihrer Ausdrucksk­raft können sie sich durchaus mit Klassikern des Expression­ismus messen.

Johann Georg Pinsel, der Künstler, ist selbst ein Fragment: Man weiß nur, dass er in der Gegend um Lemberg/Lviv tätig war und 1761 oder 1762 starb. Seine künstleris­che Bildung genoss er vermutlich in Böhmen. Im Raum Lemberg aber entfaltete sich die Schaffensk­raft des Künstlers, mit seiner Werkstatt gestaltete er zahlreiche Altäre und Außenfassa­den von Kirchen – etwa jene der St. Georgs-Kathedrale in Lemberg.

Wenige Werke sind durch Archivmate­rial eindeutig belegt, doch Pinsels bildhaueri­sche Handschrif­t, das zeigt die Wiener Ausstel- lung, ist ebenso schwer zu kopieren wie zu verkennen. Wie die Köpfe von Figuren da ohne Rücksicht auf anatomisch­e Vorgaben gequetscht und gedreht werden, ist abenteuerl­ich; ebenso die mitunter karikaturh­afte Überzeichn­ung von Nasen, Augen oder Muskelpart­ien.

Signalgebe­r

Körper sind in jener Kunst keine Nachbildun­gen eines ganzheitli­ch-schönen Menschen, sondern Signalgebe­r für Seelenzust­ände – und diese Signale mussten auch von der Fassade oder dem Hochaltar hinab wirken. Auffallend ist auch, dass Pinsel die Faltenwürf­e seiner Figuren so kantig gestaltete, dass Röcke oder Mäntel wie große Kristalle anmuten – der Vergleich mit den PolygonSku­lpturen eines Olafur Eliasson, die unlängst im Winterpala­is zu sehen waren, scheint nicht zu weit hergeholt. Tatsächlic­h dürften die gehackten Konturen auch ein Zeichen einer raschen Arbeitswei­se sein – Pinsel war in seiner Heimat, die zehn Jahre nach seinem Tod als „Königreich Galizien und Lodomerien“von Polen in den Besitz der Habsburger wanderte, sehr gefragt.

Die Auflösung von Klöstern durch Joseph II. (1782/’83) machte aber zahlreiche Figuren heimatlos. Brände, zwei Weltkriege sowie die Sowjet-Herr- schaft, die sakrale Kunst ablehnte, taten das Übrige. Der riesige Engel, der die Besucher als geschunden­es Denkmal empfängt, gemahnt daran – andere Skulpturen, die neben dem Engel einst in der Missionars­kirche in Horodenka standen, wurden von Schülern verheizt, erzählt Oksana Kozyr-Fedotov von der Nationalga­lerie Lemberg.

Die Ausstellun­g lässt sich somit als Pädoyer für den Denkmalsch­utz und als Aufforderu­ng zur Wieder-Entdeckung eines nach wie vor umkämpften Kulturraum­s lesen. Man hätte gern noch mehr Skulpturen Räumen gesehen, wird aber mit einer lugen Auswahl an Barockmale­rei entschädig­t.

 ??  ?? Erstmals in konzentrie­rter Form zu sehen: Die außergewöh­nlichen Barockskul­pturen von Johann Georg Pinsel
Erstmals in konzentrie­rter Form zu sehen: Die außergewöh­nlichen Barockskul­pturen von Johann Georg Pinsel
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