Erdoğans Schicksalswahl startet: Warum Austro-Türken in Scharen abstimmen
Referendum. Hunderte Türken machten am ersten Abstimmungstag von ihrem Wahlrecht Gebrauch.
Eine herrschaftliche Villa in Wien-Hietzing. Auf dem Dach f lattert die türkische Fahne, durch das Gitter-Tor marschieren im Minutentakt Menschen: Seit Montag können die rund 108.000 offiziell in der Türkei wahlberechtigten Austro-Türken am Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei abstimmen.Und das Interesse am ersten Tag ist beim KURIER-Lokalaugenschein enorm: Mehrere Hundert Menschen haben binnen Stunden ihre Stimme abgegeben. Die Argumente derer, die zur Verfassungsänderung „Evet“(Ja) oder „Hayır“(Nein) sagen, könnten unterschiedlicher nicht sein.
„Ich stimme mit Ja“, sagt Betül Güleç-Namazcı. Die überzeugte Erdoğan-Anhängerin hat alle 18 Paragrafen gelesen, sagt sie. „Am meisten beeindruckt mich, dass dem Präsidenten nach der Änderung die Immunität genommen wird und er verurteilt werden kann.“
Auf die Frage, ob sie befürchtet, dass Erdoğan mit den neuen Machtbefugnissen zu einem Alleinherrscher gemacht werden könnte, antwortet sie in perfektem Deutsch: „Nein. Er ist seit 15 Jahren an der Macht. Wenn er wollte, hätte er es früher machen können. Die System-Änderung ist über Erdoğan hinaus positiv für die Türkei.“
Ähnlich sieht die Sache Hüseyin Bilgin. Der Staplerfahrer ist in Österreich aufgewachsen und hält „Ja“einfach für die richtige Antwort. Warum?
„Weil es dann mehr Demokratie geben wird als jetzt.“Schon heute gäbe es in der Türkei mehr Demokratie als in manch anderem eu- ropäischen Land. „Und das wird jetzt noch besser.“
Und all die inhaftierten Journalisten, Richter und Staatsanwälte? Sind die alle wirklich Staatsfeinde?
Bilgins Antwort dazu: „Bei den meisten ist das wohl gerechtfertigt.“
Vor dem Abgrund
Bringt Erdoğan tatsächlich mehr Demokratie?
Ömer Şahingöz schüttelt den Kopf. „Die Türkei wird in den Abgrund getrieben“, sagt der aus Anatolien stammende Mann. Şahingöz ist seit 46 Jahren in Österreich, er sieht sich als Nationalist. „Ich habe bis jetzt immer MHP gewählt, aber jetzt bin ich gegen den Kurs von MHP-Chef Devlet Bahçeli
Die Türkei sei auf dem Weg zu einer Diktatur. „Wir wollen kein Ein-MannRegime. Wir wollen, dass die Prinzipien Atatürks beibehalten werden. “
Hasan Altuğ hofft nicht nur auf ein „Nein“, er ist sogar sicher dass die Türken gegen Erdoğans Verfassungsänderung stimmen: „Das politische System der Türkei hat sich bewährt, es ist gut, so wie es ist – und es muss nicht verändert werden.“
Kritik an Imamen
In Deutschland, wo mit 1,4 Millionen Stimmberechtigten die größte Auslandstürken-Community wohnt, hat der Urnengang ebenfalls begonnen – und es regt sich erste Kritik. Der Vorhalt: Es könnte in den Konsulaten zu Spitzeltätigkeiten kommen, weil in den Wahlkommissionen Imame des Moscheenverbandes DITIB sitzen. Dass die Imame mit heiklen Daten in Berührung kommen wird insofern als problematisch erachtet, als kürzlich eine Reihe an DITIB-Predigern unter Spionageverdacht geriet: Vertrauliche Informationen über Erdoğan-Kritiker sollen nach Ankara übermittelt worden sein. Der Generalbundesanwalt ermittelt.